Pendergast 07 - Maniac - Fluch der Vergangenheit
Es war nichts, auf das er den Finger hätte legen können, doch irgendein sechster Sinn sagte ihm sofort, dass Gefahr drohte. Und dann, als die Frau in ihre Handtasche griff, wurde ihm klar, was es war: Das waren nicht mehr die langsamen, zögernden Bewegungen einer alten Dame. Vielmehr waren sie geschmeidig und schnell – und schienen einen furchtbaren Zweck zu verfolgen. Aber noch ehe er sich bewegen konnte, glitt die Hand aus der Hand tasche – und hielt eine Waffe.
Diogenes erstarrte. Die Waffe war altertümlich, praktisch eineAntiquität. Fast wider Willen stellte er fest, dass sein Blick an der Frau hinaufwanderte, bis er ihr Gesicht erreichte – und da erkannte er die unergründlichen, ausdruckslosen Augen unter der Perücke, die seinen Blick erwiderten. Er kannte diese Frau gut.
Sie richtete die Waffe auf ihn.
Diogenes sprang auf – der Absinth schwappte über sein Hemd und spritzte auf die Vorderseite seiner Hose – und warf sich zur Seite, als die Frau abdrückte.
Nichts.
Als er sich aufrichtete, schlug ihm das Herz wie verrückt. Ihm dämmerte, dass sie noch nie eine Waffe abgefeuert hatte – sie wusste nicht, wie man zielte, hatte nicht einmal den Sicherheitsriegel gelöst. Er stürzte sich auf sie, aber noch während er das tat, hörte er, wie der Sicherheitsbügel gelöst wurde, und ein ohrenbetäubender Schuss knallte durch das Abteil. Diogenes hechtete zur Seite, während die Kugel die Verkleidung des Eisenbahnwaggons über seinem Kopf durchschlug.
Diogenes rappelte sich auf, zugleich trat die Frau einen Schritt nach vorn, fast wie eine Geistererscheinung in den Schwaden aus Kordit und Staub. Abermals – mit perfekter, furchterregender Haltung – richtete sie die Waffe auf ihn und zielte. Diogenes warf sich gegen die Tür zum Nachbarabteil; nur um festzustellen, dass der Zugbegleiter sie noch nicht aufgeschlossen hatte.
Noch eine ohrenbetäubende Explosion, und nur Zentimeter neben seinem Ohr flogen Splitter aus der Holzverkleidung.
Er drehte sich zu ihr um, so dass er jetzt mit dem Rücken zum Fenster stand. Vielleicht konnte er sie überwältigen, sie mit Schlägen zur Tür hinausdrängen … Doch abermals richtete sie, so langsam und bedächtig, dass es unsagbar schreckenerregend war, die altertümliche Pistole auf ihn und zielte.
Diogenes sprang zur Seite, während eine dritte Kugel das Fensterdurchschlug, dort, wo er einen Augenblick zuvor gestanden hatte. Als das Echo des Schusses verklang, wurde das Rattern der Zugräder hörbar. Vom Gang her drang aufgeregtes Rufen in das Abteil. Draußen war das Ende des Bahnsteigs zu sehen. Selbst wenn er sie überwältigte, ihr die Waffe entwand – es wäre alles vorbei. Man würde ihn fassen, seine Identität aufdecken.
Ohne noch länger nachzudenken, wirbelte Diogenes herum und sprang durch das eingeschlagene Fenster, landete unsanft auf dem Beton das Bahnsteiges und rollte einmal, zweimal, ein Durcheinander aus Staub inmitten der Scherben aus Sicherheitsglas. Halb benommen und mit rasendem Herzschlag rappelte er sich auf, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie der letzte Waggon des Zuges am Ende des Bahnsteigs verschwand, hineinfuhr in den dunklen Schlund des Tunnels.
Er stand da, wie betäubt. Und doch blieb, durch seine Benommenheit hindurch, durch seinen Schrecken, seinen Schmerz und seine Angst, ein Bild bestehen: die furchtbare Ruhe, mit der sie – Constance – ihr Ziel ins Visier genommen hatte. Ihr Blick war bar jeglichen Gefühls oder Ausdrucks gewesen, nichts, absolut nichts hatte er darin lesen können …
Außer absolute Entschlossenheit.
68
Wer den Herrn durch die Sicherheitskontrolle im Terminal E des Logan Airport in Boston gehen sah, hätte einen elegant gekleideten Mittsechziger bemerkt, mit braunem, an den Schläfen ergrauendem Haar, einem penibel gestutzten, graumelierten Vollbart, im blauen Blazer mit offenem weißem Hemd und rotem Einstecktuch in der Brusttasche. Seine Augen warenvon einem funkelnden Blau, die Wangenknochen ausgeprägt und das Gesicht offen, rötlich and fröhlich. Über dem Arm trug er einen schwarzen Kaschmirmantel, den er zusammen mit seinen Schuhen und seiner Armbanduhr auf das Förderband legte.
Hinter der Sicherheitskontrolle ging der Herr mit festem Schritt den Gang des Terminals entlang und blieb kurz vor der Buchhandlung in der Nähe von Gate 7 stehen. Er ging hinein, stöberte in den Regalen mit Thrillern und freute sich, dass ein neuer James Rollins herausgekommen war. Er nahm
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