Pendergast 07 - Maniac - Fluch der Vergangenheit
…
Es war alles so perfekt gewesen. Und der Fluch des Grabes, den er sich so wundervoll zunutze gemacht hatte, hatte dem Ganzen einen zusätzlichen exquisiten Touch verliehen: die Leute weich klopfen, sie psychologisch auf seine grauen erregende Sound-and-Light-Show vorbereiten. Es hätte funktioniert. Und es hatte ja
wirklich
geklappt, bis auf dieses eine Element, das er niemals hätte vorhersehen können: die Flucht seines Bruders aus Herkmoor. Wie war ihm das gelungen? Und dann war er pünktlich am Ort des Geschehens eingetroffen und hatte wieder einmal alles ruiniert.
Typisch Aloysius. Aloysius, der – als der weniger begabte Bruder – stets sein makabres Vergnügen daran hatte, jene Dinge niederzureißen, die er selbst so liebevoll aufgebaut hatte. Aloysius, der, als er merkte, dass er in intellektueller Hinsicht immer den Kürzeren ziehen würde, den letzten Schritt getan hatte, ihn einem EREIGNIS zu unterwerfen, das dafür sorgen würde …
Doch hier begann die Hand, die das Glas hielt, zu zittern, und Diogenes brach den Gedankengang sofort ab. Wie auch immer: Er würde seinem Bruder noch ein Geschenk zur Ergötzung seines Gewissens machen – Margo Greens grauenhaften Tod.
Man hörte ein Zischen der Bremsen; noch eine Ankündigung des Zugführers; und dann begann der Zug, während die Metallräderquietschten, langsam den Bahnsteig entlang voranzugleiten. Diogenes war auf dem Weg: Cold Spring, Kanada, Europa und Zuhause.
Zu Hause.
Schon allein der Gedanke, wieder in seiner Bibliothek zu sitzen, zwischen seinen geschätzten Besitztümern, umfangen von einem Haus, das er so liebevoll entworfen hatte, dass er darin allen seinen Vergnügungen nachgehen konnte, half ihm, sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Von zu Hause hatte er, während vieler Jahre, sein perfektes Verbrechen geplant. Von dort konnte er es wieder tun. Er war noch relativ jung. Er hatte noch viele Jahre vor sich, mehr als genug, um einen Plan zu entwickeln – einen besseren Plan.
Diogenes trank einen größeren Schluck Absinth. Vor lauter Wut und Schreck hatte er eines vergessen, nämlich dass er durchaus erfolgreich gewesen war, zumindest teilweise. Er hatte seinem Bruder großen Schmerz bereitet. Aloysius war in aller Öffentlichkeit gedemütigt worden und hatte, angeklagt des Mordes an seinen eigenen Freunden, im Gefängnis gesessen. Er mochte frei sein, vorübergehend, aber er wurde noch immer von der Polizei gesucht. Mit dem Ausbruch aus dem Gefängnis hatte er sich die Grube, in der er steckte, nur noch tiefer gegraben. Nie würde er ruhen, nie frei atmen können. Er würde endlos gejagt werden. Für jemanden, der so viel Wert auf seine Privatsphäre legte, mussten die Qualen im Gefängnis demütigend gewesen sein.
Ja, er hatte viel erreicht. Er hatte seinen Bruder an dessen lebenswichtigster, empfindlichster Stelle getroffen. Während Aloysius im Gefängnis schmachtete, hatte er dessen Mündel verführt. Welch verabscheuungswürdiges, köstliches Vergnügen ihm das bereitet hatte. Erstaunlich: Hundert Jahre Kindheit … und doch immer noch so frisch, so unschuldig und naiv. Jedes Netz, das er gesponnen hatte, jede zynische Lüge, die er aufgetischt hatte, war ihm eine Freude gewesen. Vor allemseine langen und windigen Abhandlungen über Farbe. Das junge Ding würde inzwischen tot sein, in der Lache ihres eigenen Bluts liegend. Ja, Mord war das eine, aber Selbstmord, echter Suizid, das war der schwerste Schlag von allen.
Er nahm noch einen langsamen Schluck und sah über den Rand seines Glases den Bahnsteig vorbeigleiten. Diogenes näherte sich dem zweiten Stadium des Absinth-Trinkens, der Kontemplation ungeheuerlicher, grausamer Dinge – und er wollte eine Vorstellung in seinem Kopf behalten, wie eine Art Balsam, ein besonderes Bild: wie sein Bruder über Constances Leiche stand und den Brief las. Dies war das Bild, das ihn so lange trösten, nähren und erhalten würde, bis er zu Hause eintraf …
Die Tür zu seinem Abteil rollte klappernd zur Seite. Diogenes setzte sich auf, strich seine Hemdbrust glatt und steckte die Hand in die Sakkotasche, um den Fahrschein hervorzuholen. Aber es war nicht der Schaffner, der im Gang stand. Sondern die gebrechliche alte Frau, die er einige Minuten zuvor auf dem Bahnsteig hatte entlanggehen sehen.
Er runzelte die Stirn. »Das hier ist ein Privatabteil«, sagte er kurz angebunden.
Die Frau gab ihm keine Antwort. Stattdessen betrat sie das Abteil.
Sofort war Diogenes beunruhigt.
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