Pendergast 07 - Maniac - Fluch der Vergangenheit
Sergeant die Tür hinter sich geschlossen hatte, blieb Hayward stumm und zitternd hinter ihrem überbordenden Schreibtisch sitzen. Ihr Blick wanderte über das Chaos, aber sie sah nichts, überhaupt nichts.
29
Eine dunkle, kühle Nacht war über die ruhelosen Straßen von Upper Manhattan hereingebrochen, doch in die Bibliothek des Hauses am Riverside Drive 891 wäre selbst um zwölf Uhr mittags kein Lichtstrahl gedrungen. Die Rollläden aus Metall vor den zweiflügeligen Fenstern waren heruntergelassen und abgeschlossen, und vor den Fenstern hingen Vorhänge aus schwerem Brokat. Der Raum war einzig erhellt vom Schein einiger Kerzen und dem Flackern der Glut, die auf dem breiten Feuerrost im Kamin glomm.
Constance saß in einem Ohrensessel aus glänzendem Leder. Sie saß sehr aufrecht, so als wäre sie auf Abruf, vielleicht aber auch, um jeden Augenblick fliehen zu können. Angespannt schaute sie auf die andere Person im Raum: Diogenes Pendergast, der auf dem Sofa ihr gegenüber saß, ein Buch mit russischen Gedichten in Händen. Er sprach leise, seine Stimme klang honigsüß, aber der warme Tonfall des amerikanischen Südens kam ihr seltsam angemessen vor für den Sprachfluss des Russischen.
endete er, dann legte er den Band aus der Hand und schaute zu Constance hinüber. »›Immer schwächer erinnert sich das Herz an die Sonne, fahl ist das Gras.‹« Er lachte leise. »Die Achmatova. Niemand sonst hat je mit dieser Art präziser Eleganz über Trauer und Leid geschrieben.«
Es entstand ein kurzes Schweigen.
»Ich kann kein Russisch«, antwortete Constance schließlich.
»Eine wunderschöne, poetische Sprache, Constance. Es ist schade, dass Sie kein Russisch können, denn ich spüre, dass es Ihnen bei der Bewältigung Ihres Leides helfen würde, wenn Sie wüssten, wie die Achmatowa in ihrer eigenen Sprache von ihrem persönlichen Leid spricht.«
Sie runzelte die Stirn. »Ich leide nicht.«
Diogenes hob die Brauen und legte das Buch beiseite. »Bitte, mein Kind«, sagte er leise. »Ich bin’s, Diogenes. Vor anderen müssen Sie vielleicht die Tapfere spielen. Aber es gibt keinen Grund, etwas vor mir zu verbergen. Ich kenne Sie. Wir sind einander sehr ähnlich.«
»Ähnlich?« Constance lachte bitter. »Sie sind ein Verbrecher. Und ich – Sie wissen
nichts
über mich.«
»Ich weiß eine Menge, Constance«, sagte er mit immer noch leiser Stimme. »Sie sind einzigartig. So wie ich. Wir sind allein. Ich weiß, dass auf Ihnen Fluch und Segen einer seltsamen und fürchterlichen Last ruhen. Wie viele Menschen würden sich ein solches Geschenk wünschen, wie es Ihnen mein Großonkel Antoine gemacht hat – und doch: Wie we nige können verstehen, was es genau bedeutet. Nicht Freiheit, ganz und gar nicht. So viele, viele Jahre der Kindheit … und doch des Kind
seins
beraubt zu sein …«
Er schaute sie an, während das Kaminfeuer seine merkwürdigen zweifarbigen Augen erhellte. »Ich habe es Ihnen gesagt. Auch ich bin meiner Kindheit beraubt worden; durch meinenBruder und dessen zwanghaften Hass, den er gegen mich hegt.«
Sofort lag Constance ein Einspruch auf den Lippen. Aber diesmal unterdrückte sie ihn. Sie spürte, wie sich der weiße Mäuserich in ihrer Rocktasche bewegte, er rollte sich, glücklich und zufrieden, zusammen, wollte ein Schläfchen halten. Unbewusst legte Constance die Hand auf die Tasche und strich mit ihren schlanken Fingern darüber.
»Aber ich habe ja schon mit Ihnen über diese Jahre gesprochen. Darüber, wie er mich behandelt hat.« Neben seiner rechten Hand stand ein Glas Pastis – er hatte sich zuvor an der Schrankbar bedient; jetzt nahm er langsam, nachdenklich einen kleinen Schluck. »Hat mein Bruder sich mit Ihnen in Verbindung gesetzt?«, fragte er.
»Wie sollte er? Sie wissen doch, wo er ist. Sie selbst haben ihn ja da hingebracht.«
»Andere in ähnlichen Situationen finden Wege, ihren Liebsten eine Nachricht zukommen zu lassen.«
»Vielleicht möchte er mir kein weiteres Unwohlsein bereiten.« Noch im Sprechen wurde ihre Stimme leiser. Sie senkte den Blick auf ihre Finger, die immer noch geistesabwesend die schlafende Maus streichelten, dann hob sie den Blick und schaute in Diogenes’ ruhiges, gut geschnittenes Gesicht.
»Wie gesagt«, fuhr er nach einer Pause fort, »es gibt noch vieles andere, was wir gemeinsam haben.«
Constance schwieg und streichelte die Maus.
»Und vieles, was ich Sie lehren kann.«
Abermals wollte sie ihm eine scharfzüngige Antwort
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