Pendergast 07 - Maniac - Fluch der Vergangenheit
den Flügel und schlug ein paar Tasten an. Er war sehr gut gestimmt, die Hämmer hatten einen sehr weichen Anschlag.
Okay, das war immerhin schon etwas: Diogenes spielte Klavier.
Er betrachtete die Partitur, die aufgeschlagen auf dem Notenständer stand: Schuberts
Impromptu Opus 90.
Darunter Partituren von Debussys
Clair de Lune
und ein Heft mit Chopins
Notturnos.
Also war er noch dazu ein ausgesprochen guter Pianist, wenn auch vermutlich nicht auf Konzertniveau.
Neben dem Flügel befand sich noch ein weiterer Flur, er führte in die Bibliothek. Unerklärlicherweise herrschte in diesem Zimmer totale Unordnung. Überall lagen Bücher auf dem Boden herum, manche waren aufgeschlagen, auf den Regalen waren Lücken. Der Teppich war faltig und an einem Ende hochgeschlagen, eine Tischleuchte lag zerbrochen auf dem Boden. Die Mitte des Raums wurde von einem großen Tisch mit einer schwarzen Samtdecke beherrscht; darauf stand eine Reihe heller Spotlights.
In einer Ecke sah Smithback etwas, bei dessen Anblick ihm ein kalter Schauer über den Rücken jagte: einen großen, schön gearbeiteten Amboss aus Edelstahl. Daneben lag ein zerknüllter Lappen und eine Art Hammer aus einem grauen, glänzenden Metall – vielleicht Titan?
Smithback verließ die Bibliothek und ging auf einer Holztreppe nach oben. Sie endete auf einem Absatz mit einem langen Flur, an dessen Wänden Gemälde mit maritimen Motiven hingen. Auf einem Tisch hockte ein kleiner, ausgestopfter Kapuzineraffe neben einem großen Glassturz, unter dem ein mit Schmetterlingen übersäter künstlicher Baum stand.
Die Türen zu den Zimmern standen alle offen.
Als er das Zimmer direkt am oberen Ende der Treppe betrat, wurde Smithback klar, dass es sich um dasjenige handeln musste, in dem Viola Maskelene gefangen gehalten worden war. Das Bett war zerwühlt, auf dem Boden lag ein zerbrochenes Glas, und irgendwer hatte an einer Wand die Tapete abgekratzt, so dass darunter Metall zum Vorschein kam.
Smithback ging hin und zupfte vorsichtig noch ein wenig mehr Tapete ab. Die Wände bestanden aus reinem Stahl.
Er erschauerte erneut und spürte, wie ein Gefühl der Beunruhigung ihn beschlich. Das Fenster bestand aus dem gleichen dicken blaugrünen Glas wie unten und war vergittert. Die Tür, die er als Nächstes untersuchte, war extrem schwer, ebenfalls aus Stahl, und drehte sich geräuschlos an übergroßen Angeln. Er sah sich das Schloss aus der Nähe an – superschweres bearbeitetes Messing und Edelstahl.
Smithbacks Nervosität nahm zu. Und wenn Diogenes nun zurückkehrte? Aber natürlich würde er nicht zurückkommen – das wäre ja verrückt. Es sei denn, er hätte etwas im Haus vergessen …
Schnell durchsuchte er noch die anderen Zimmer. Einer Intuition folgend nahm er seinen Schraubenzieher und stocherte damit in der Wand eines anderen Raums. Auch sie war aus Stahl. Hatte Diogenes vor, mehr als eine Person einzusperren? Oder war das gesamte Haus derart befestigt?
Smithback lief mit klopfendem Herzen die Treppe hinunter. Das Haus verursachte ihm eine Gänsehaut. Außerdem hatte sich der Tag als komplette Zeitverschwendung erwiesen: Er war ohne einen richtigen Plan hierhergefahren, auf der Suche nach nichts Bestimmtem. Ob er sich wohl Notizen machen sollte – aber worüber? Vielleicht sollte er die ganze Sache vergessen und Margo Green besuchen. Schließlich war er ja schon mal aus der Stadt draußen. Aber das würde eine genauso sinnlose Fahrt werden – er hatte gehört, dass sich ihr Zustandabrupt verschlechtert hatte und sie inzwischen im Koma lag und auf niemanden reagierte …
Plötzlich versteinerte er. Leise Schritte auf der Veranda!
Er bekam eine Heidenangst und stieg in den Kleiderschrank unten an der Treppe. Er wühlte sich zur Rückseite vor und versteckte sich hinter einer Reihe von Jacketts aus Kaschmir, Kamelhaar und Tweed. Hörte das Rütteln an der Tür und dann das Knarren, als sie sich langsam öffnete.
Diogenes?
Der Schrank roch stark nach Wolle. Smithback konnte vor Angst kaum atmen.
Leise bewegten sich die Schritte über den mit Teppich ausgelegten Eingangsbereich und ins Wohnzimmer, dann verharrten sie. Stille.
Smithback wartete.
Als Nächstes bewegten sich die Schritte ins Esszimmer, dann wurden sie leiser, entfernten sich in die Küche.
Sollte er Reißaus nehmen?
Doch noch bevor er darüber nachdenken konnte, kehrten die Schritte zurück: langsame, leise, zielstrebige Schritte. Jetzt bewegten sie sich in Richtung Bibliothek,
Weitere Kostenlose Bücher