Pendergast 09 - Cult - Spiel der Toten
alle. Ja, man werde juristische Schritte gegen das Ville einleiten. Nein, das werde nicht morgen geschehen; das Rechtsverfahren werde den Zeitplan festlegen. Ja, er sei sich durchaus bewusst, dass gegen die Gruppe Mordverdacht bestehe; nein, es gebe keine Beweise, die Ermittlungen würden fortgesetzt, niemand sei bislang eines Verbrechens angeklagt. Ja, das Ville besitze allem Anschein nach keinen Rechtsanspruch auf den Grund und Boden; die städtischen Anwälte seien vielmehr der Auffassung, dass die Bewohner kein Recht auf nachteilige Besitznahme begründet haben.
Die Fragen verebbten; er sah auf die Uhr: Viertel vor eins. Er nickte seinen Assistenten zu und hob seinen Glatzkopf mit dem kleinen Haarbüschel ein letztes Mal in Richtung der Presseleute. »Vielen Dank, meine Damen und Herren. Hiermit ist die Pressekonferenz beendet.«
Das quittierten die Demonstranten mit einigen weiteren Zurufen.
Nichts als Worte, aber keine Taten! Nichts als Worte, aber keine Taten!
Hochzufrieden steckte Wartek das Blatt Papier in seine Anzugtasche zurück und stieg die Treppe hinauf. Es war genauso gelaufen, wie er erhofft hatte. Er sah die Abendnachrichten schon vor sich. Einige kurze Zitate aus seiner Rede, ein, zwei Fragen, die er beantwortete, ein paar Augenblicke, die den Demonstranten gewidmet waren, und damit wäre die Sache erledigt. Er hatte sich abgesichert, jeder Wählerschaft einen Knochen hingeworfen und das nüchterne, langweilige Gesicht der Verwaltung der Stadt New York gezeigt. Was die New Yorker Demonstranten anging, so war das eine reichlich saft- und kraftlose Gruppe. Offensichtlich handelte es sich um einen Nebenkriegsschauplatz zu dem, was sie sonst noch vorhatten. Wie er gehört hatte, war eine zweite Ville-Demonstration geplant, viel größer als die erste, aber die würde gottlob nicht in seinen Kompetenzbereich fallen. Solange die Leute nicht hier in der Gegend demonstrierten, war ihm das ziemlich schnuppe. Und wenn sie am Ende das Ville abfackelten – na ja, das wäre eine praktische Lösung für sein Problem.
Er kam oben auf der Treppe an und ging, zwei Assistenten an seiner Seite, auf die Glas-Drehtür zu. Es war Mittagszeit, deshalb kamen Ströme von Angestellten der Stadtverwaltung aus dem großen Gebäude und ergossen sich über die Treppe. Es war, als schwimme man gegen eine Strömung.
Während er und seine Assistenten gegen diesen Strom ankämpften, spürte Wartek, dass ein Vorbeigehender ihm einen kräftigen Schlag auf die Schulter versetzte.
»Ich muss doch bitten!«
Wartek wandte sich verärgert um, als er in seiner Seite ein völlig überraschendes Gefühl verspürte. Er taumelte zurück, griff sich instinktiv an die Taille und war noch erstaunter, als er ein sehr langes Messer ertastete – und sah, wie es aus ihm heraus und durch seine zupackenden Hände gezogen wurde. Er empfand Hitze und Eiseskälte zugleich; Eiseskälte tief in den Eingeweiden, Hitze, die nach außen und unten strömte. Er schaute auf und erhaschte einen kurzen Blick auf ein geschwollenes, schorfiges Gesicht: übelriechende, klebrige Haare, aufgesprungene Lippen, die sich über einem vergammelten Gebiss zurückzogen.
Und dann war die Gestalt verschwunden.
Sprachlos fasste sich Wartek an die Seite, torkelte vorwärts. Die Leute, die an ihm vorbeiströmten, schienen zu zögern, zu stocken, gegeneinanderzustoßen.
Eine Frau kreischte ihm ins Ohr.
Wartek, der noch immer nicht verstand, noch immer keinen klaren Gedanken fassen konnte, tat einen zweiten taumelnden Schritt. »Aua«, sagte er leise, zu niemand Besonderem.
Noch ein Schrei, dann erfüllte eine Welle von Lärm, ein Tosen, so laut wie die Niagara-Fälle, die Luft. Wartek knickten die Beine weg, gleichzeitig hörte er zusammenhanglose Rufe, sah einen Ansturm blauer Uniformen: Polizisten, die sich durch die Menge drängten. Noch eine jähe Explosion von Chaos rings um ihn herum. Menschen, die dahin und dorthin liefen, hin und her.
Mit äußerster Kraftanstrengung tat er noch einen Schritt, dann sackte er zusammen. Viele Hände fingen ihn auf und legten ihn sanft auf den Boden. Noch mehr verwirrte Rufe, einige wiederkehrende Worte durchdrangen den Tumult:
Holt einen Krankenwagen! Einen Arzt! Der Mann wurde niedergestochen! Er blutet!
Marty Wartek fragte sich, worum es eigentlich bei all diesem Durcheinander ging, und legte sich schlafen. Er war so müde, und New York war eine so laute Stadt.
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50
Langsam trieb sie in düstere Träume hinein und
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