Pendergast 09 - Cult - Spiel der Toten
Verstehen Sie doch, er will mit mir sprechen. Persönlich.« Und noch ehe Hayward etwas erwidern konnte, griff Kline in die Hosentasche, zog ein Kuvert hervor, nahm das darin befindliche Schreiben heraus und hielt es ihr hin.
Sie griff nach dem Brief, aber Kline zog ihn an sich, außer Reichweite. »Nein. Nicht anfassen.«
Hayward blickte ihn noch einmal prüfend an, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Brief zu. Das Schreiben stammte tatsächlich von Commissioner Rocker, offizieller Briefkopf, auf den Vortag datiert, und dankte Kline – dem Vorstandschef von Digital Veracity, Inc. – für seine soeben bekanntgewordene Fünf-Millionen-Spende für den Dyson-Fonds. Der Fonds, eine Art Heiligtum unter allen Beamten und Mitarbeitern der New Yorker Polizei, trug seinen Namen nach Gregg Dyson, einem verdeckten Ermittler, der zehn Jahre zuvor von Drogenhändlern ermordet worden war. Er war gegründet worden, um die Familien von New Yorker Polizisten, die im Dienst umgekommen waren, finanziell zu unterstützen.
Wieder blickte sie Kline an. Menschen strömten aus dem Gebäude, wichen ihnen aus. Das Lächeln lag noch immer auf seinen Gesichtszügen. »Das freut mich sehr für Sie«, sagte sie. »Aber was hat das mit mir zu tun?«
»Alles.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Sie sind doch eine schlaue Polizistin. Sie werden schon noch dahinterkommen.« Er drehte sich zu der Drehtür um, hielt kurz inne und blickte zurück. »Ich will Ihnen jedoch verraten, wo Sie mit Ihrer Suche beginnen können.«
Hayward wartete.
»Fragen Sie Ihren Freund Vinnie.« Und als Kline sich wieder abwandte, war sein Lächeln verschwunden.
[home]
48
Nora Kelly schlug die Augen auf. Einen Moment lang versuchte sie zu begreifen, wo sie sich befand. Dann erinnerte sie sich: an den Geruch von Franzbranntwein und schlechtem Essen, das Piepen und Murmeln, die fernen Sirenen. Das Krankenhaus.
Immer noch.
Sie lag da mit pochendem Kopf. Die Infusionsflasche, die am Ständer neben dem Bett hing, schwang im hellen Mondlicht, knarrend wie ein rostiges Schild im Wind. Hatte sie ihn angestoßen, so dass er sich derart bewegte? Vielleicht hatte ja eine Schwester den Ständer berührt, als sie eben nach ihr gesehen und ihr noch mehr jener Beruhigungsmittel verabreicht hatte, von denen Nora immer wieder gesagt hatte, dass sie sie nicht brauche. Möglicherweise hatte auch der Polizist, den D’Agosta vor dem Zimmer postiert hatte, kurz hereingeschaut. Sie blickte zur Tür. Geschlossen.
Die Infusionsflasche schwang hin und her und knarrte unablässig.
Ein seltsames Gefühl der Entrücktheit beschlich Nora. Sie war müder, als ihr klar gewesen war. Oder es handelte sich um die Auswirkungen der zweiten Gehirnerschütterung.
Die Gehirnerschütterung
. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Weil sie sich dann an die Ursache erinnern würde, an ihre nachtdunkle Wohnung, das offene Fenster und …
Sie schüttelte vorsichtig den Kopf, schloss die Augen, dann atmete sie tief durch, mehrmals, um sich zu beruhigen. Schließlich schlug sie die Augen auf und blickte sich um. Sie befand sich im selben Zweibettzimmer, in dem sie seit drei Tagen lag, ihr Bett stand am Fenster. Die Jalousien waren geschlossen, der Trennvorhang um das Bett neben der Tür war zugezogen.
Sie drehte sich um und betrachtete den Vorhang genauer. Dahinter war der Umriss der schlafenden Person zu erkennen, von hinten erleuchtet vom Licht, das aus dem Badezimmer fiel. Aber war das wirklich die Silhouette eines Patienten? War das Bett nicht leer gewesen, als sie einschlief? Das war jetzt ihre dritte Nacht hier. Immer wieder hatten die Ärzte ihr versichert, dass sie nur zur Beobachtung hier sei, dass sie morgen entlassen würde – und dass das Bett immer leer gewesen sei.
Langsam beschlich sie ein fürchterliches Gefühl von déjà vu. Nora lauschte und hörte ganz leise ein Atmen, ein leises, unregelmäßiges Seufzen. Wieder blickte sie sich um. Das ganze Zimmer wirkte seltsam, die Winkel verrutscht, der ausgeschaltete Fernseher über dem Bett schief, wie die Perspektiven in einem deutschen expressionistischen Film.
Ich muss wohl immer noch schlafen,
dachte sie.
Das hier ist nur ein Traum
. Es kam ihr vor, als würde die erstarrte Traumlandschaft sie einhüllen und in eine wattige Umarmung schließen.
Der Umriss regte sich; ein Seufzen. Ein leises Gurgeln von Schleim. Dann hob sich langsam ein Arm, die Silhouette zeichnete sich hinter dem Vorhang
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