Pendergast 09 - Cult - Spiel der Toten
in Restaurants, führten ihre Hunde Gassi oder wollten einfach nur nach Hause. Nora schritt schneller aus; an der frischen Luft würde sie bestimmt einen klareren Kopf bekommen. Sie ging raschen Schritts Richtung Innenstadt und wich den Leuten aus. Hier draußen auf der Straße, unter anderen Menschen, wollte sie ihre Gedanken allmählich unter Kontrolle bringen und das, was eben passiert war, mit etwas mehr Distanz betrachten. Es war töricht gewesen, so panisch zu reagieren – irgendwann musste sie ja in ihre Wohnung zurückkehren, und zwar je eher, desto besser. All ihre Bücher, ihre Arbeitsunterlagen, ihr Computer,
seine
Sachen – alles war dort.
Einen Augenblick lang wünschte sie, dass ihre Eltern noch lebten, dass sie sich in ihre Arme flüchten könnte. Aber das war ein noch törichteres, sinnloseres Gedankenspiel.
Sie schritt langsamer aus. Vielleicht sollte sie wieder umkehren. Sie zeigte doch nur jene Art von Gefühlsreaktion, von der sie gehofft hatte, sie vermeiden zu können.
Sie blieb stehen und blickte sich um. Neben ihr standen Leute Schlange, um in die Waterworks Bar eingelassen zu werden. In einem Türeingang knutschte ein Pärchen. Eine Gruppe von Wall-Street-Typen ging nach Hause, alle trugen dunkle Anzüge und Aktentaschen. Noras Blick fiel auf einen Obdachlosen, der an den Häuserwänden entlangschlurfte, im gleichen Tempo wie sie. Auch er blieb jetzt stehen, drehte sich abrupt um und ging in die entgegengesetzte Richtung weiter.
Etwas an der Verstohlenheit dieser Bewegung, an der Art, wie der Mann sein Gesicht vor den Blicken verbarg, weckte sofort Noras Großstadt-Instinkte.
Sie beobachtete, wie der in schmutzige Lumpen gekleidete Obdachlose dahinschlurfte und dabei exakt so wirkte, als versuche er zu verschwinden. Hatte er gerade jemanden beraubt? Als sie ihm hinterherging, erreichte der Mann die Ecke 88. Straße, blieb stehen, schlich dann um die Ecke und blickte noch einmal nach hinten, ehe er verschwand.
Nora blieb beinahe das Herz stehen.
Es war Fearing
. Sie war sich da fast sicher; dasselbe hagere Gesicht, dieselbe schlaksige Figur, dieselben dünnen Lippen, dasselbe ungebändigte Haar und anzügliche Grinsen.
Eine lähmende Angst packte sie – die ebenso rasch blanker Wut wich.
»Hey!«, schrie sie und fiel in Laufschritt. »Hey, Sie da!« Sie drängte sich durch die Leute auf dem überfüllten Bürgersteig, behindert durch die Menschentraube vor dem Waterworks. Sie drängelte sich einfach durch.
»Wow, Lady!«
»Entschuldigen Sie!«
Sie löste sich aus der Menschenansammlung und rannte los, strauchelte, fing sich wieder, dann setzte sie die Verfolgung fort und sprintete um die Ecke. Die 88. Straße, lang und schwach beleuchtet, gesäumt von Ginkgo-Bäumen und dunklen Brownstone-Häusern, verlief nach Osten und mündete in die hellen Lichter der Amsterdam Avenue mit ihren Edelbars und -restaurants. Eine dunkle Gestalt bog gerade in die Amsterdam ein und strebte zurück in die Innenstadt.
Nora lief die Straße entlang, rannte, so schnell sie konnte, und verfluchte, dass sie nach der Gehirnerschütterung und der Bettruhe so schwach und hinfällig war. Sie umrundete die Ecke und blickte die Amsterdam hinunter, auf der sich genauso viele Leute tummelten.
Da war er. Er schritt jetzt schnell und entschlossen aus, einen halben Häuserblock vor ihr.
Sie stieß einen jungen Mann zur Seite und rannte wieder los, um die Gestalt einzuholen. »Hey! Sie da!«
Die Gestalt ging weiter.
Nora spurtete zwischen den Fußgängern hindurch und streckte den Arm aus. »Halt!«
Kurz vor der 87. Straße holte sie den Mann ein. Sie packte den schmutzigen Stoff an seiner Schulter und riss ihn herum. Er starrte Nora aus ängstlich geweiteten Augen an. Sie ließ ihn los und trat einen Schritt zurück.
»Was ist dein Problem?« Ganz klar, das war nicht Fearing. Nur irgendein Junkie.
»Entschuldigung«, murmelte sie. »Ich habe Sie für jemand anderen gehalten.«
»Lass mich in Ruhe.« Er wandte sich ab, murmelte »Miststück« und ging weiter unsicheren Schritts die Amsterdam hinunter.
Nora sah sich hektisch um, aber der wirkliche Fearing – wenn er denn überhaupt hier gewesen war – war verschwunden. Mit zittrigen Beinen stand sie inmitten der vorüberhastenden Menschen. Nur mit größter Mühe bekam sie ihre Atmung unter Kontrolle.
Schließlich fiel ihr Blick auf die nächstgelegene Bar, den Neptune Room, ein lautes, teures Fischrestaurant, in dem sie noch nie gewesen war. Sie
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