Pendergast 09 - Cult - Spiel der Toten
»Worum handelt es sich?«
»Bitte, lassen Sie es mich Ihnen einfach mal zeigen. Ich kann nicht … na ja, kann es nicht sehr gut beschreiben.«
»Selbstverständlich«, sagte Pendergast und trat vor. »Vincent, wenn Sie lieber hier warten möchten …?«
D’Agosta straffte das Kinn. »Ich komme mit.«
Sie folgten Beckstein durch die zweiflügelige Edelstahltür ins grünliche Licht eines großen gekachelten Raums. Sie legten Gesichtsmasken, Handschuhe und Kittel an, dann gingen sie weiter, bis sie in einen der Sektionssäle gelangten.
Sofort sah D’Agosta den Prosektor, der sich über den Leichnam beugte, das Gewinsel der Strykersäge in seinen Händen klang wie eine wütende Stechmücke. In der Nähe lümmelte ein Assistent herum, der einen Bagel mit Räucherlachs aß. Auf einem zweiten Obduktionstisch lagen verschiedene, mit Zettelchen versehene Organe. Wieder schluckte D’Agosta, fester diesmal.
»Hey«, sagte der Sektionsgehilfe zu Beckstein. »Sie kommen gerade recht. Wir wollten uns den Darm vornehmen.«
Ein strenger Blick von Beckstein brachte den Mann zum Schweigen. »’tschuldigung. Wusste ja nicht, dass Sie Besuch mitbringen.« Er grinste und biss herzhaft in den Bagel. Der Raum roch nach Formalin, Fisch und Fäkalien.
Beckstein wandte sich zum Prosektor um. »John, ich möchte Lieutenant D’Agosta und Special Agent Pendergast mal das, äh, Objekt zeigen, das wir gefunden haben.«
»Kein Problem.« Der Prosektor schaltete die Säge aus und glitt einen Schritt zur Seite. Äußerst widerwillig trat D’Agosta langsam vor, dann warf er einen Blick auf den Leichnam.
Es war übler, als er sich vorstellt hatte. Schlimmer noch als in seinen schlimmsten Albträumen. Bill Smithback, nackt, tot, aufgemacht. Die Kopfhaut zurückgezogen, das braune Haar an der Schädelbasis gefältet, die blutige Kopfhaut entblößt, frische Sägespuren verliefen im Halbkreis um den Schädel. Die Körperhöhlung weit geöffnet, die Rippen gespreizt, die Organe entfernt.
Er senkte den Kopf und schloss die Augen.
»John, könnten Sie mal einen Spreizer im Mund fixieren?«
»Gern.«
D’Agosta hielt die Augen weiterhin geschlossen.
»Fertig.«
Er schlug die Augen auf. Der Mund war mit einem Edelstahlgerät aufgesperrt worden. Beckstein rückte die Stirnlampe zurecht, um das Mundinnere auszuleuchten. In der Zunge steckte ein Angelhaken mit Federn, ähnlich einer Forellenfliege. Gegen seinen Willen beugte sich D’Agosta vor, um sich die Sache genauer anzusehen. An dem Haken war ein Knoten aus hellfarbenem Bindfaden befestigt, daran hing ein winziger, grinsender Totenkopf. Am Hals des Hakens war ein Miniaturbeutel, so groß wie eine Pillendose, angebracht.
D’Agosta warf Pendergast einen kurzen Blick zu. Pendergast blickte in den offenen Mund, mit einer Intensität, wie sie seine Augen nur selten zeigten. D’Agosta kam es sogar vor, als läge in diesem Blick mehr als Intensität. Vielmehr Bedauern, Unglauben, Trauer – und Unsicherheit. Es war, als habe Pendergast wider besseres Wissen gehofft, dass er sich in irgendetwas geirrt hätte … nur um, ungeheuer entsetzt, zu erkennen, dass er nur allzu recht gehabt hatte.
Die Stille zog sich hin. Schließlich wandte sich D’Agosta zu Beckstein um. Er fühlte sich plötzlich sehr alt und müde. »Ich möchte, dass das hier fotografiert und untersucht wird. Entfernen Sie den Haken mitsamt der Zunge – lassen Sie ihn drin. Ich möchte, dass die Forensiker dieses Ding analysieren, den winzigen Beutel öffnen und mir von seinem Inhalt berichten.«
Der Sektionsgehilfe blickte D’Agosta über die Schulter und kaute dabei seinen Bagel. »Sieht so aus, als würde ein echter Psychopath frei in der Gegend rumlaufen. Man stelle sich mal vor, was die
Post
aus der Geschichte machen würde!« Lautes Knirschen, gefolgt von Kaugeräuschen.
D’Agosta drehte sich zu dem Mann um. »Wenn die
Post
das hier herausfindet«, knurrte er, »sorge ich persönlich dafür, dass Sie den Rest Ihres Lebens Bagels toasten, anstatt sie zu essen.«
»Ey, ’tschuldigung, Mann. Warum gleich so empfindlich?« Der Sektionsgehilfe trat einen Schritt zurück.
Pendergast blickte zu D’Agosta, richtete sich auf und trat von der Leiche zurück. »Vincent, mir fällt gerade ein, dass ich meiner lieben Tante Cornelia schon seit Jahren keinen Besuch mehr abgestattet habe. Hätten Sie Lust, mich zu begleiten?«
[home]
19
Nora drehte den Schlüssel im Riegelschloss und schob die Tür zu ihrer Wohnung
Weitere Kostenlose Bücher