Pendergast 09 - Cult - Spiel der Toten
in Neu-England oder kehrten nach Europa zurück, und das Gebäude wurde aufgegeben, ein Zeugnis fehlgeleiteter Hoffnungen. Der Anführer – seinen Namen habe ich nicht feststellen können, aber es war derjenige, der das Schiff beschafft und das Land gekauft hatte – siedelte nach Süd-Manhattan um, wo er zum Großgrundbesitzer aufstieg.«
»Reden Sie weiter«, sagte Pendergast.
»Springen wir hundert Jahre vor. Im Jahre 1858 oder 1859 erreichte eine zusammengewürfelte Gruppe von Süden her New York. Laut zeitgenössischen Darstellungen war es ein bunter Haufen. Im Zentrum stand ein charismatischer Prediger aus Baton Rouge, Reverend Misham Walker, der eine kleine Gruppe französisch-kreolischer Handwerker um sich geschart hatte, die aus irgendeinem Grund, den ich nicht herausgefunden habe, aus ihrer Gemeinde ausgeschlossen worden waren, außerdem mehrere westindische Sklaven. Unterwegs schlossen sich ihnen weitere Leute an. Cajun, ein paar portugiesische Häretiker und einige Bayou-Bewohner, die aus der Bretagne fliehen mussten, weil sie angeblich Heidentum, Druidentum und Hexerei praktizierten. Sie übten jedoch weder Voodoo noch Obeah im herkömmlichen Sinne aus. Vielmehr scheint es sich um ein völlig neues Glaubenssystem gehandelt zu haben, das aus unterschiedlichen Versatzstücken vorheriger Praktiken und Religionen bestand. Auf ihrer Reise aus dem tiefen Süden nach New York kam es immer wieder zu Schwierigkeiten. Wo immer sich die Gruppe anzusiedeln versuchte, opponierten die Einheimischen gegen die religiösen Rituale; deshalb sah sie sich jedes Mal gezwungen, weiterzuziehen. Hässliche Gerüchte kursierten: dass die Gruppe Säuglinge stehle, Tiere opfere, Menschen von den Toten auferstehen lasse. Die Gruppe war von Natur aus geheimniskrämerisch. Die Behandlung, die die Mitglieder erfuhren, scheint sie regelrecht einsiedlerisch gemacht zu haben. Letztlich entdeckten Walker und seine Gruppe das abgelegene Gebäude, das die Pilger an der Nordspitze von Manhattan ein Jahrhundert zuvor aufgegeben hatten, und nahmen es in Besitz, worauf sie sofort die Fenster zumauerten und die Mauern verstärkten. Es hieß, sie seien vom Pöbel attackiert worden, aber die Sache verlief im Sande, allerdings kam es zu mehreren absonderlichen Auseinandersetzungen, die in den örtlichen Zeitungen auf verwirrende Art geschildert wurden. Im Laufe der Jahre schottete sich das Ville dann immer mehr ab.«
Pendergast nickte langsam. »Und in jüngerer Zeit?«
»Mit den Jahren hat es immer wieder Beschwerden wegen Tieropferungen gegeben.« Wren hielt inne, ein ironisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Wie es scheint, handelte es sich um eine zölibatäre Gemeinde. Vergleichbar mit den Shakern.«
Pendergast hob überrascht die Brauen. »Zölibatär? Dennoch ist die Gemeinde nicht ausgestorben.«
»Nicht nur nicht ausgestorben, vielmehr hat sie offenbar stets die gleiche Anzahl aufgewiesen: einhundertvierundvierzig. Alle männlich, alle im Erwachsenenalter. Man glaubt, dass die Gemeinde neue Mitglieder rekrutierte. Ziemlich nachdrücklich, wenn nötig, und immer nachts. Es heißt, dass sie sich die Unzufriedenen, die psychisch Instabilen, die Menschen am Rand der Gesellschaft als Opfer aussuchte, ideale Kandidaten für Zwangsrekrutierungen. Wenn ein Mitglied starb, musste ein neues gefunden werden. Und dann gab es da noch die
Gerüchte
.« Wrens dunkle Augen funkelten.
»Worum drehten die sich?«
»Um eine mörderische Gestalt, die nachts umhergeht. Einen Zombie, wie manche behaupteten«, antwortete er leicht amüsiert.
»Und was ist aus dem Grund und Boden und den Gebäuden geworden?«
»Das umgebende Land wurde im Jahr 1916 von der Behörde für Öffentliche Parks der Stadt New York erworben. Einige andere verfallene Gebäude im Park wurden abgerissen, aber das Ville wurde übergangen. Allem Anschein nach wollte die Parkbehörde keine Entscheidung erzwingen.«
»Verstehe.« Pendergast blickte Wren mit seltsamer Miene an. »Vielen Dank, das war ein ausgezeichneter Beginn. Bleiben Sie dran, wenn ich bitten darf.«
Wren erwiderte den Blick, seine dunklen Augen blitzten vor Neugier. »Worum geht es genau,
hypocrite lecteur?
Warum interessiert Sie das alles?«
Pendergast antwortete ihm nicht sofort. Einen Augenblick lang schien es, als schweiften seine Gedanken in die Ferne. Dann erhob er sich.
»Es wäre voreilig, darüber zu sprechen.«
»Verraten Sie mir zumindest eines: Ist Ihr Interesse … an dieser Sache nicht
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