Pendergast 09 - Cult - Spiel der Toten
»Vielleicht ist die Zeit gekommen, die Hilfe von Monsieur Bertin zu erbitten.«
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D’Agosta sah, wie das graue Licht der Morgendämmerung langsam durch die mit Vorhängen versehenen Fenster des Gotham Press Club kroch. Er war erschöpft, sein Kopf pochte im gleichen Rhythmus wie sein Herz. Das Spurensicherungsteam hatte seine Arbeit beendet und war gegangen; die Jungs für die Haare und Fasern waren gekommen und gegangen; der Fotograf war gekommen und gegangen; der Rechtsmediziner hatte den Leichnam abgeholt; sämtliche Zeugen waren befragt worden oder waren zur Befragung einbestellt. Und jetzt stand D’Agosta allein am versiegelten Tatort.
Er hörte den Verkehr auf der 53. Straße, die frühen Lieferwagen, die ersten Müllwagen, die Taxifahrer, die ihre Tagesschicht mit dem üblichen Aufwachritual begannen: Hupen und Fluchen.
D’Agosta blieb weiter ruhig in der Ecke des Saals stehen, sehr elegant und Alt-New-York: die Wände mit Täfelungen aus dunkler Eiche versehen, Kamin mit geschnitztem Kaminsims, Marmorfußboden mit schwarz-weißem Kachelmuster, Kristalllüster an der Decke und hohe, längs unterteilte Fenster mit golddurchwirkten Vorhängen. Der Raum roch nach altem Zigarettenqualm, faden Hors d’œuvres und verschüttetem Wein. Wegen der Panik, die während des Mordes ausgebrochen war, lagen ziemlich viele Essensreste und Glasscherben auf dem Boden herum. Aber mehr brauchte D’Agosta gar nicht zu sehen, es mangelte weder an Zeugen noch an Indizien. Der Mörder hatte die Tat vor den Augen von über zweihundert Personen verübt – kein einziger von den hasenherzigen Journalisten hatte ihn daran gehindert – und war anschließend durch die rückwärtige Küche geflohen, durch mehrere Türen, die die Catering-Leute unverschlossen gelassen hatten, weil ihr Lieferwagen in einer Gasse gleich hinter dem Gebäude parkte.
Hatte der Mörder das gewusst? Ja. Alle Zeugen hatten berichtet, dass sich der Mörder nicht schnell, aber bewusst geradewegs auf eine der hinteren Türen für den Anlieferungsservice zubewegt hatte, durch die Küche und nach draußen. Er kannte den Grundriss des Gebäudes, wusste, dass die Türen unverschlossen waren, dass das Tor, das die hintere Gasse versperrte, offen stehen würde, wusste, dass die Gasse auf die 54. Straße und in die Anonymität der Menschenmassen führte. Oder zu einem bereitstehenden Wagen. Alles deutete darauf hin, dass es sich hier um ein gut geplantes Verbrechen handelte.
D’Agosta rieb sich die Nase und bemühte sich, langsam zu atmen, damit seine Schläfen nicht mehr so stark pochten. Er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Diese Mistkerle im Ville würden noch feststellen, dass sie einen schweren Fehler gemacht hatten, als sie einen Polizeibeamten angriffen. Sie hatten mit dieser Sache zu tun, auf die eine oder andere Art, da war er sicher. Smithback hatte über sie geschrieben und teuer dafür bezahlt; jetzt hatte Caitlyn Kidd das gleiche Schicksal ereilt.
Warum war er eigentlich noch hier? Es gab nichts Neues, was er aus dem Tatort hervorzaubern konnte, nichts, was nicht schon untersucht, aufgezeichnet, fotografiert, in die Hand genommen, getestet, beschnüffelt, genauestens betrachtet und zu den Akten gelegt worden war. Er war unglaublich erschöpft. Und dennoch brachte er es nicht fertig, zu gehen.
Smithback
. Das, er wusste es, war der Grund, warum er einfach nicht gehen konnte.
Die Zeugen hatten alle geschworen, es sei Smithback gewesen. Selbst Nora, als er sie – sie stand zwar unter Beruhigungsmitteln, war aber hell genug im Kopf – in ihrer Wohnung vernommen hatte. Zwar hatte sie den Mörder von der anderen Seite des Saals gesehen, ihre Aussage war deshalb nicht ganz verlässlich, aber andere hatten den Täter aus der Nähe gesehen und geschworen, es sei Smithback gewesen. Das Mordopfer selbst, Caitlyn Kidd, hatte Smithbacks Namen gerufen, als der Täter sich ihr näherte. Und dennoch: Noch vor einigen Tagen hatte er Smithbacks Leiche mit eigenen Augen auf einer Rollbahre gesehen, die Brust geöffnet, die Organe entfernt und mit kleinen Zettelchen versehen, die Schädeldecke aufgesägt.
Smithbacks Leiche war verschwunden … Wie konnte es nur geschehen, dass irgendein Irrer ins Leichenschauhaus spazierte und eine Leiche stahl? Vielleicht war das aber auch gar nicht so überraschend – Nora war ja schließlich auch dort hineingestürmt, und niemand hatte sie aufgehalten. Es gab nur einen Nachtportier, außerdem schienen
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