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Pendergast 10 - Fever - Schatten der Vergangenheit

Titel: Pendergast 10 - Fever - Schatten der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lincoln Douglas & Child Preston , Lincoln Child
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den Türbogen. Das Gemälde stand in der Mitte des Raums auf einer Staffelei. Es war mit einem schweren Samttuch verhüllt.
    »Bitte stellen Sie sich dorthin, vor das Gemälde«, sagte Pendergast. »Ich brauche Ihre ehrliche Reaktion.«
    D’Agosta stellte sich direkt davor.
    Pendergast trat an die Seite der Staffelei, ergriff das Tuch und nahm es ab.
    Völlig verblüfft starrte D’Agosta das Bild an. Es zeigte nicht den Karolinasittich, nicht einmal einen Vogel oder sonst irgendein Naturmotiv. Es war ein Aktgemälde. Man sah eine verhärmte Frau mittleren Alters, die auf einem Krankenhausbett lag. Ein Strahl kühlen Lichts fiel schräg aus einem winzigen Fenster hoch oben hinter ihr herein. Sie hatte die Beine an den Knöcheln gekreuzt und die Hände über den Brüsten gefaltet, eine Haltung fast wie bei einer Leiche. Die Rippen ragten hervor, die Haut hatte die Farbe von Pergament, sie war eindeutig krank und möglicherweise auch nicht ganz geistig gesund. Und doch hatte sie etwas abstoßend Einladendes an sich. Neben dem Bett stand ein kleiner Kiefernholztisch mit einem Wasserkrug und Verbandsmaterial. Das schwarze Haar der Frau breitete sich über das Kissen aus grobem Leinen aus. Die geweißten Wände, das schlaffe, trockene Fleisch, die Webart des Bettleinens, selbst die Sonnenstäubchen in der Luft waren genau beobachtet und mit gnadenloser Klarheit und Sicherheit wiedergegeben, extrem realistisch und elegisch zugleich. D’Agosta war kein Experte, aber dennoch machte das Gemälde einen ungeheuren Eindruck auf ihn.
    »Vincent?«, fragte Pendergast ruhig.
    D’Agosta strich mit ausgestrecktem Finger den schwarzen Rahmen des Gemäldes entlang. »Ich weiß nicht, was ich denken soll«, sagte er.
    »In der Tat.« Pendergast zögerte. »Als ich anfing, das Gemälde zu reinigen, kam als Erstes das da zum Vorschein.« Er deutete auf die Augen der Frau, die aus dem Bild heraus auf den Betrachter starrten. »Als ich das gesehen hatte, erkannte ich, dass all unsere Annahmen falsch gewesen waren. Ich brauchte Zeit für mich allein, um den Rest des Gemäldes zu reinigen. Ich wollte nicht, dass Sie es Stück für Stück enthüllt sahen. Ich wollte, dass Sie gleich das ganze Gemälde sehen. Ich brauchte eine frische, unmittelbare Meinung. Deshalb habe ich Sie so unvermittelt ausgeschlossen. Ich bitte nochmals um Verzeihung.«
    »Ein außerordentliches Bild. Aber … sind Sie sicher, dass es überhaupt ein Audubon ist?«
    Pendergast deutete auf eine Ecke des Gemäldes, wo D’Agosta so gerade eben eine undeutliche Signatur erkennen konnte. Dann wies er stumm auf eine andere, dunkle Ecke des gemalten Zimmers, wo eine Maus hockte, wie in Wartehaltung. »Die Signatur ist echt, aber, was noch wichtiger ist, niemand außer Audubon hätte diese Maus malen können. Und ich bin sicher, dass es ein reales Vorbild dafür gab, im Sanatorium. Sie ist so schön beobachtet, dass es nicht anders sein kann.«
    D’Agosta nickte langsam. »Ich war mir ganz sicher, dass es ein Karolinasittich sein würde. Was soll eine nackte Frau mit alldem zu tun haben?«
    Pendergast breitete lediglich seine weißen Hände aus, eine Geste der Ratlosigkeit; D’Agosta konnte die Frustration in seinen Augen erkennen. Der Bundesagent wandte sich von der Staffelei ab und sagte: »Schauen Sie die mal durch, Vincent, wenn Sie mögen.« Auf einem Refektoriumstisch war eine Anzahl von Drucken, Lithographien und Aquarellen ausgebreitet. Auf der linken Seite lagen Skizzen von Tieren, Vögeln, Insekten, Stillleben und rasche Porträtskizzen. Obenauf lag das Aquarell einer Maus.
    Sie unterschieden sich vollständig von den Bildern, die auf der rechten Seite ausgebreitet waren. Das war etwas völlig anderes. Sie zeigten fast ausschließlich Vögel, so lebensecht und detailgetreu gemalt, dass sie fast aus dem Papier hätten stelzen können, doch es gab auch ein paar Säugetiere und Waldszenen.
    »Bemerken Sie den Unterschied?«
    »Natürlich. Die Sachen auf der linken Seite sind Mist. Die auf der rechten Seite – also, die sind einfach wunderschön.«
    »Ich habe sie aus den Mappen meines Ururgroßvaters genommen«, sagte Pendergast. »Die dort«, er wies auf die groben Skizzen auf der linken Seite, »bekam mein Vorfahr achtzehnhunderteinundzwanzig von Audubon, der damals in dem Cottage in der Dauphine Street wohnte. Das war kurz vor Audubons Erkrankung. So hat er gemalt, bevor er ins Meuse St. Claire-Sanatorium kam.« Er wandte sich den Arbeiten auf der rechten

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