Pendergast 12 - Fear - Grab des Schreckens
du mein Mündel bist und, wie es scheint, mein Orakel – sein …«
Constance blickte zu ihm hoch, eine Augenbraue ganz leicht gehoben. »Sein was? Sein Babysitter?«
»Mehr als sein Babysitter. Weniger als sein Vormund. Eher seine ältere Schwester.«
» Ältere ist hier das entscheidende Wort. Hundertdreißig Jahre älter. Aloysius, findest du nicht, dass ich ein bisschen zu alt bin, um wieder damit anzufangen, mich wie eine Schwester zu verhalten?«
»Es handelt sich zugegebenermaßen um eine neuartige Idee. Könntest du sie denn wenigstens in Betracht ziehen?«
Constance schaute ihn einen langen Moment an. Dann kehrte ihr Blick zu Tristrams leerem Stuhl zurück. »Er hat tatsächlich etwas Rührendes. So sehr das Gegenteil von seinem Bruder, zumindest, wie du ihn mir geschildert hast. Er ist so jung und ungeduldig – und erstaunlich naiv, was die Welt angeht. So unschuldig.«
»So wie es jemand anders war, den wir früher einmal kannten.«
»Die Sache ist die: Ich spüre in ihm eine unglaubliche, beinahe grenzenlose Empathie, eine Tiefe des Mitgefühls, die ich seit meiner Zeit im Kloster nicht mehr erlebt habe.«
An diesem Punkt kam Tristram mit einem Glas Milch in der Hand in die Bibliothek zurück.
»Herr Proctor kommt«, sagte er zu ihnen. »Er bringt Ihnen – wie war noch einmal das Wort, das er gebraucht hat? – Erfrischungen.« Er wiederholte das Wort und nahm am Tisch Platz, als wollte er es schmecken.
Pendergast wandte sich zu dem Jungen. Einen Moment lang schaute er ihn einfach nur an, wie er da saß und mit offensichtlichem Genuss seine Milch trank. Seine Bedürfnisse waren so einfach, seine Dankbarkeit auch für die geringste Güte so grenzenlos. Er erhob sich von seinem Stuhl und ging zu seinem Sohn. Tristram stellte das Milchglas auf den Tisch und blickte zu ihm hoch.
Er kniete sich hin, damit er auf der Höhe des Jungen war, griff in seine Jacketttasche und zog einen goldenen Ring mit einem großen, makellosen Sternsaphir hervor. Er nahm Tristrams Hand und drückte den Ring hinein. Der Junge starrte darauf, drehte ihn in seinen Händen um, dann hielt er ihn sich näher an die Augen und beobachtete, wie sich der Stern auf der Oberfläche des Saphirs bewegte.
»Er hat deiner Mutter gehört, Tristram«, sagte er sanft. »Ich habe ihn ihr zu unserer Verlobung geschenkt. Wenn ich das Gefühl habe, dass du bereit bist – noch nicht, aber vielleicht in nicht allzu ferner Zukunft –, erzähle ich dir alles über sie. Sie war eine höchst bemerkenswerte Frau. Wie alle von uns hatte sie ihre Fehler. Und sie hatte mehr als genug Geheimnisse. Aber ich habe sie sehr geliebt. So wie du war auch sie ein Opfer des Bundes. So wie du hatte sie einen Zwilling. Es war sehr schwierig für sie. Aber die Jahre, die wir zusammen verbracht haben, gehören zu den wundervollsten meines Lebens. Es sind insbesondere diese Erinnerungen, die ich mit dir teilen möchte. Vielleicht können sie dir helfen und dich in geringer Weise für die Erinnerungen entschädigen, derer man dich beraubt hat – all die Jahre.«
Tristram blickte vom Ring auf und schaute Pendergast ins Gesicht. »Ich würde sehr gern etwas über sie erfahren, Vater.«
Ein diskretes Hüsteln ertönte. Pendergast blickte auf und sah Proctor in der Tür stehen, ein Silbertablett auf einer erhobenen Hand, zwei Gläser Sherry darauf balancierend. Als sich Pendergast erhob, trat der Chauffeur einen Schritt vor und bot das eine Glas dem FBI-Agenten und das andere Constance an.
»Vielen Dank, Proctor«, sagte Pendergast. »Sehr freundlich.«
»Gern geschehen, Sir«, kam die gemessene Antwort. »Mrs. Trask hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass das Abendessen um acht Uhr aufgetragen wird.«
Pendergast neigte den Kopf.
Als er aus der Bibliothek in die große Rotunde ging, die als Empfangsbereich der Villa diente, blieb Proctor kurz stehen, um über die Schulter zu schauen. Pendergast war zu seinem Schreibtisch in der hinteren Ecke zurückgekehrt und starrte recht missmutig ins Kaminfeuer. Constance mischte ein Kartenspiel und redete leise mit Tristram, der ihr gegenübersaß und aufmerksam zuhörte.
Als Constance ungefähr drei Wochen zuvor aus dem Mount Mercy entlassen worden war, hatte sie sich gegenüber dem jungen Mann reserviert und distanziert benommen. Jetzt hatte sie sich, wie Proctor auffiel, mit ihm angefreundet – zumindest ein wenig. Das Kaminfeuer und das Kerzenlicht warfen einen milden Schein auf die Reihen alter Bücher, die
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