Pendergast 12 - Fear - Grab des Schreckens
Meine Schwester Mary wurde das Opfer eines Arztes, der der Five Points Mission angegliedert war, einem Chirurgen von großen Fähigkeiten, der sich Enoch Leng nannte. Dr. Leng hatte den alles überragenden Ehrgeiz, seine Lebensspanne weit über die eines normalen Menschen zu verlängern. Bevor Sie ihn jedoch verurteilen, sollte ich erklären, dass Dr. Leng nicht aus egoistischen Gründen handelte. Er arbeitete an einem wissenschaftlichen Projekt – einem, das sich nicht in einer normalen Lebensspanne vollenden ließ.«
»Was für ein wissenschaftliches Projekt?«, fragte Felder.
»Die Einzelheiten sind für meine eigene Geschichte nicht von Belang.« Constance hielt inne. »Nun, hier kommen wir zum ersten von mehreren grotesken Umständen. Dr. Lengs Theorien waren unorthodox, ebenso wie sein Sinn für ärztliche Ethik. Seine Forschungen gaukelten ihm vor, dass es möglich sei, eine medizinische Behandlung zu erfinden – eine Formel oder Geheimmittel –, welche das Leben ungemein verlängert. Die Ingredienzien konnten ausschließlich aus lebendem menschlichem Gewebe beschafft werden, das einem gesunden jungen Menschen entnommen worden war.«
»Großer Gott«, murmelte Felder.
»Als Spezialist in einem Arbeitshaus für Kinder im Stadtteil Five Points, damals New Yorks berüchtigtstes Elendsviertel, litt Dr. Leng keinen Mangel an Rohmaterial. Meine eigene Schwester fiel seinen Experimenten zum Opfer – ihr zerstückelter Leichnam wurde neben einem Dutzend anderer vor ungefähr drei Jahren in Lower Manhattan in einem Massengrab entdeckt.«
Felder erinnerte sich, bei einem seiner Besuche in der Stadtbibliothek einen Artikel gelesen zu haben, der diese Entdeckung beschrieb. Er hatte in der New York Times gestanden, geschrieben von diesem Reporter namens Smithback, der später ermordet wurde. Mary Greene ist also Constances Schwester, dachte er.
»Ich fürchte, sehr viele Menschen sind Dr. Leng zum Opfer gefallen, während er sein Verfahren verfeinerte. Es genügt zu sagen, dass es ihm im Jahr achtzehnhundertfünfundachtzig gelang, sein Arkanum zu vervollkommnen.«
»Er fand einen Weg, sein Leben zu verlängern?«
»Sein Verfahren konzentrierte sich auf ein Bündel von Nerven, das als Cauda equina bekannt ist – es besteht keine Notwendigkeit für weitere anatomische Erklärungen, Sie sind Arzt. Aber ja: Durch zunehmend feinere Verbesserungen ist es ihm tatsächlich gelungen, den Alterungsprozess des menschlichen Körpers dramatisch zu verlangsamen. Zu der Zeit war ich sein Mündel und lebte bei ihm zu Hause.«
»Sie –«, begann Felder.
»Nachdem meine Schwester verschwunden war, wurde ich – in der Sprache der damaligen Zeit – ein ›Straßenkind‹. Ich hatte keine Familie und lebte auf der Straße, tat alles, was nötig war, um am Leben zu bleiben. Ich bettelte, ich schob Karren oder fegte für Fußgänger die Bürgersteige, in der Hoffnung, einen Penny zu bekommen. Mehr als einmal wäre ich fast erfroren oder verhungert. Viele Nächte habe ich im Schatten der Five Points Mission geschlafen, wo Dr. Leng seine Dienste unentgeltlich anbot. Eines Tages blieb der Doktor stehen und fragte, wie ich heiße. Als ich es ihm sagte, wurde ihm, glaube ich, klar, dass er für meine Situation verantwortlich war – und aus irgendeinem unbekannten Grund erbarmte er sich meiner. Oder vielleicht auch nicht. Jedenfalls hat er mich in seine Villa am Riverside Drive mitgenommen, mich als Versuchskaninchen benutzt und mir das perfekte Arkanum verabreicht, wahrscheinlich um es auf Nebenwirkungen zu testen. Und mit der Zeit bin ich ihm seltsamerweise ans Herz gewachsen. Warum, werde ich nie erfahren. Er hat mir zu essen gegeben, hat mich eingekleidet, mich erzogen und … mir weiterhin dasselbe Elixier verabreicht, das er sich selbst gab.«
Constance hatte lange gezögert, diese letzten Worte zu äußern. Einige Minuten lang herrschte Stille in der Kapelle. Die Geschichte war nicht zu glauben, aber Felder wusste, es war die Wahrheit.
Schließlich fuhr Constance fort: »Viele, viele Jahre lang lebten wir ein einsames, zurückgezogenes Leben in jener Villa. Ich setzte meine Studien in Literatur, Philosophie, Kunst, Musik, Geschichte und Sprachen fort, zum Teil mit Hilfe des Doktors und teilweise allein, wobei ich von seiner Bibliothek und seinen wissenschaftlichen Sammlungen freien Gebrauch machte. Unterdessen setzte Dr. Leng seine Arbeit fort. Um das Jahr neunzehnhundertfünfunddreißig hatte er abermals Erfolg. Unter
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