Penelope Williamson
er
deutete aus der Kutsche, »gesündigt hat, wie du behauptest, dann war ein
Mann mit von der Partie. Ich frage dich: Warum hat man nicht auch ihn an dem
Wagen gebunden und peitscht ihn zusammen mit ihr aus?«
Delia starrte ihn verblüfft an. Über diesen Widerspruch hatte sie
noch nie nachgedacht. Er war ein Mann, und doch sah er deutlich die
Ungerechtigkeit der gesellschaftlichen Moral.
Sie grübelte noch immer über diesen seltsamen Aspekt seines Wesens
nach, als die Kutsche in die Beacon Street einbog und ein herrschaftliches Haus
erreichte, das in einiger Entfernung von der Straße im Schatten hoher Bäume
stand. Auf dieser Straßenseite, die sich bis zum Beacon Hill hinaufzog, gab es
nur vier Häuser. Auf dem Hügel flatterten die Fahnen des Leuchtturms. Der Wind
trug den süßen Geruch von Zucker in die Kutsche, denn in der Nähe von Mill Pond
befanden sich die Rumbrennereien.
Sie fuhren die breite Auffahrt hinauf, und die Kutsche hielt an.
Der Lakai öffnete den Schlag und half Delia beim Aussteigen. Sie blickte
staunend auf die riesige Fassade des Hauses, das aus Granit gebaut war. Die
vielen Fenster hatten Einfassungen aus braunem Sandstein. Es hatte drei
Stockwerke und Mansardendächer aus blaugrauem Schiefer. Das Portal war mit
einem Fries geschmückt und wurde von Säulen eingerahmt. In der Mitte der
mächtigen Eingangstür befand sich ein Türklopfer in Form eines Messinglöwen
mit einem Messingreif im Rachen.
»Tyl!« rief sie staunend. »Ich habe noch nie ein so prächtiges
Haus gesehen!« Sie blickte ihn mit leuchtenden Augen an und fragte bittend:
»Darf ich mit hinein? Ich verspreche Ihnen, ich werde mich bestimmt wie eine
Dame benehmen ... wirklich.«
Er lächelte sie an, reichte ihr den Arm und
führte sie zum Eingang, als sei sie wirklich eine Dame. Delia hob stolz den
Kopf und strahlte.
Aber dann verdarb er alles, indem er sagte: »Ich möchte diesmal
nicht, daß du dich wie eine Dame benimmst, Delia, selbst wenn du tatsächlich
dazu in der Lage sein solltest. Gib dich ganz so, wie du wirklich bist.«
Noch ehe sie den Eingang erreicht hatten, wurde die Tür geöffnet.
Eine Frau, die so groß war wie Tyl, begrüßte die beiden. Auch sie trug einen
silbernen Sklavenring um den Hals, hatte eine steife Schürze umgebunden und
einen riesigen Turban auf dem Kopf. Die Fröhlichkeit in ihrem Gesicht wirkte so
ansteckend, daß Delia sie unwillkürlich anlächelte.
»Guten Morgen, Mistress«, sagte sie und nickte Delia zu, die mit weit aufgerissenen Augen in die lange getäfelte
Halle trat und fassungslos auf die breite Freitreppe mit dem kunstvoll
geschnitzten Geländer starrte. »Guten Morgen, Massah Tyler«, sagte sie und nahm
Delia den Mantel ab, den sie ihr so ehrfürchtig von den Schultern nahm, als sei
er aus rotem Samt. »Suh Patrick erwartet Sie in seinem Schlafgemach, Massah
Tyler.«
Sir Patrick, dachte Delia, Allmächtiger, ist Tyls Großvater womöglich
ein Lord?
Plötzlich wäre sie doch lieber draußen in der Kutsche geblieben
und hätte dort auf ihn gewartet.
»Danke, Frailty«, sagte Tyl und ging zur Treppe. Delia hielt ihn
am Jackenärmel fest.
»Ist Ihr Großvater ein Lord?«
Tyls Blick fiel unwillkürlich auf ein in Öl
gemaltes Porträt, das über einer mit kunstvollen Schnitzereien verzierten
Nußbaumanrichte hing. Delia begriff, daß dies der alte Lord sein mußte. Er
wirkte wahrhaft ehrfurchtgebietend, bestimmt eine große Persönlichkeit.
»Sir Patrick Graham ... aber er ist kein
Lord«, erwiderte Tyl. »Um genau zu sein, er wurde als Sohn eines kleinen
schottischen Pächters geboren. Königin Anne hat ihn vor vielen Jahren in den
Ritterstand erhoben, weil er vor der Küste Bahamas eine gesunkene spanische
Galeone entdeckt hatte, die randvoll mit Gold und Silber gefüllt war.« Er sah
Delia spöttisch an. »Er ist ein aufgeblasener Esel, und ich hoffe, daß du ihn
vielleicht auf den Boden der Wirklichkeit bringst.«
Frailty schnalzte mit der Zunge und hob mahnend den Zeigefinger.
»Aber Massah Tyler, Sie sollten sich schämen, dieses arme Mädchen zu benutzen,
um Ihren Großvater zu ärgern. Lassen Sie sich nicht darauf ein, Kleines«, sagte
sie zu Delia.
Delia blickte noch immer wie gebannt auf das
Porträt des strengen alten Mannes mit der großen Hakennase. Er sah wirklich
nicht aus, als hätte er viel Geduld mit einem jungen Mädchen, das in einer
Spelunke im Hafen arbeitete und einfach in sein prächtiges Haus geschneit kam,
um ihn zur Vernunft zu
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