Penelope Williamson
beinahe
bäuchlings auf der Erde gelandet wäre, wenn er sie nicht im letzten Moment am
Arm festgehalten hätte.
»Reverend Hooker«, sagte Tyl lächelnd, ließ
Delia los und reichte dem jungen Mann die Hand. »Es tut mir leid, daß ich so
spät komme.«
Reverend Hooker war Anfang zwanzig. Er hatte ein schmales
asketisches Gesicht, wie es seinem Beruf angemessen war. Er trug einen
einfachen schwarzen Anzug und einen schwarzen Hut mit einer breiten Krempe.
Sogar sein Stock war schwarz.
Er erwiderte Tyls Lächeln. Dann richteten sich seine Augen auf
Delia. Er lächelte auch sie an, aber als er ihre Kleider sah, erstarb das
Lächeln.
»Ich bin Delia«, sagte sie. »Ich vermute, wir werden zusammen nach
Merrymeeting reisen.«
Der Reverend schluckte erschrocken. »Hm, ja, hm ... ich bin
Caleb«, sagte er schließlich und rieb seine Hand nervös am Hosenbein. Dann räusperte
er sich und sah Tyl hilfesuchend an. Als er seine Stimme wieder unter Kontrolle
hatte, sagte er salbungsvoll: »Ich freue mich, daß Sie hier sind. Wir haben uns
wirklich schon Sorgen gemacht.« Er wandte sich der Frau auf dem Wagen zu und
sagte: »Dr. Savitch, darf ich Ihnen meine Frau Elizabeth vorstellen.«
Delia musterte die Frau des jungen Pfarrers
mit unverhüllter Neugier. Sie hatte einen langen, anmutig geneigten Hals, und
ihre Haut war so rein wie frische Milch. Nase und Augen erinnerten an ein Kind,
aber zusammen mit dem kleinen Mund wirkten sie vollkommen. Auch sie war völlig
in Schwarz gekleidet, abgesehen von einem schlichten weißen Bündchen mit
Schleife, die über das Mieder fiel, und dem schmalen weißen Manschettenbesatz
der langen Ärmel. Ihre Haare verschwanden beinahe völlig unter der Haube, und
nur am Haaransatz über der Stirn konnte man sehen, daß sie blaßblond waren.
Ihre Hände umklammerten eine ledergebundene Bibel mit einer vergoldeten
Schließe auf ihrem Schoß.
»Lizzie, das ist der gute Doktor, von dem ich
dir erzählt habe«, sagte Reverend Caleb Hooker. Der sanfte Ton ließ erkennen, daß er
seine Frau liebte. »Es ist der Mann, der uns nach Merrymeeting bringen wird.
Und das, hm, ist Delia.«
Die Augen der Frau, die so klar waren wie der
frühe Morgen, hoben sich kurz und richteten sich dann wieder auf die Bibel in
ihrem Schoß. »Es freut mich, Sie kennenzulernen, Dr. Savitch«, sagte sie mit
melodischer Stimme.
Tyl erwiderte nichts. Das seltsame Schweigen veranlaßte Delia, von
der jungen Frau auf Tyl zu blicken. Als sie seinen Gesichtsausdruck sah,
glaubte sie, das Herz werde ihr brechen.
Tyler Savitch blickte die Frau des Pfarrers mit weit mehr als nur
freundlicher Bewunderung an.
4
Sie fuhren mit dem Flachboot über den Charles River. Außer ihnen
hatte die Fähre eine Herde blökender Ziegen und eine Ladung Rumfässer an Bord.
Elizabeth Hooker fürchtete sich entweder vor dem Wasser oder den Ziegen,
möglicherweise aber auch vor beidem und blieb mit geschlossenen Augen auf dem
Wagen sitzen. Tyl spielte den männlichen Beschützer und wich nicht von ihrer
Seite.
Der Anblick der beiden und seine Bewunderung
für diese Frau waren für Delia so schmerzlich, daß sie glaubte, ihre Eifersucht
nicht mehr bändigen zu können. Wie unberechenbar und gierig ist das Herz,
dachte sie verzweifelt, gestern war ich noch glücklich, auch nur in seiner Nähe
sein zu dürfen und sein Gesicht zu sehen, aber heute will ich bereits mehr. Sie
träumte von dem, was sie niemals haben würde.
Schließlich kam sie zu der Überzeugung, es
sei leichter, wenn sie die beiden nicht ansehen mußte. Deshalb ging sie zum
Heck und blickte auf die zurückweichende Landschaft ihres vergangenen Lebens.
Die spitzen Türme der vielen Bostoner Kirchen ragten wie Disteln in den Himmel.
Die Kais im Hafen wirkten wie Straßen, und das Kupferdach des Leuchtturms von
Beacon Island funkelte gleißend in der Sonne, so daß Delia geblendet die Augen
zusammenkniff. Als sie die Tränen trocknete, redete sie sich ein, es sei die
Sonne, die sie zum Weinen brachte, und nicht der Abschiedsschmerz.
»Vater ...«, flüsterte sie und hatte ein
schlechtes Gewissen.
Ihr Vater mußte in einer der Kneipen seinen Rausch ausgeschlafen
haben, denn als sie in der Nacht nach Hause gekommen war, lag er nicht auf
seiner Matratze. Sie hatte sich nicht von ihm verabschieden können. Vermutlich
war es auch besser so. Er würde die nächsten Tage ohnehin betrunken sein und
wäre doch nur mit den Fäusten auf sie losgegangen.
Erst wenn er wieder nüchtern war,
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