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Penelope Williamson

Penelope Williamson

Titel: Penelope Williamson Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Widerspenstige
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würde er sie vermissen. Wahrscheinlich
konnte er sich dann nicht einmal mehr daran erinnern, daß sie ihm mit einem
Stück des abgebrochenen Geländers auf den Kopf geschlagen hatte. Er würde sie
im Hafen suchen. Er würde sich Sorgen um sie machen und dann begreifen, daß sie
davongelaufen war. Ihr Vater war nicht dumm, zumindest dann nicht, wenn er
nüchtern war. Er würde weinen. Keiner konnte sich so der Trübsal überlassen wie
ihr Vater, wenn ihn das Selbstmitleid überkam.
    Schuldgefühle und Gewissensbisse quälten Delia. Sie nahm sich vor,
nach ihrer Ankunft in Merrymeeting jemanden, der schreiben konnte, darum zu
bitten, daß er für sie einen Brief an ihren Vater schrieb. Sie würde ihm sagen,
daß es ihr gutging und er sich keine Sorgen zu machen brauchte.
    »Armer Vater ... Wer wird jetzt für dich sorgen, wenn ich nicht
mehr da bin?« Sie schluchzte leise und dachte dann: Und wen soll er verprügeln,
wenn er betrunken ist?
    Sie schloß die Augen und sah ihren Vater vor
sich. Aber es war nicht der Vater, wie sie ihn an jenem letzten Tag gesehen
hatte, mit blutunterlaufenen Augen und wutverzerrtem Gesicht. Es war ein Bild
in ihrer Erinnerung, und es stammte von einem Tag, an dem er gut zu ihr gewesen
war. Er war damals in ihren kindlichen Augen so groß und stark gewesen. Sie
standen zusammen am Ende von Long Wharf, und er zeigte ihr alle Schiffe, die im
Hafen lagen. Delia spürte noch immer seine starke, große Hand, die ihre kleine
behutsam umschloß. Sie erlebte wieder die unvergeßliche Erregung bei dem
Gedanken daran, wie groß und abenteuerlich die Welt sein mußte. In diese
Erregung hatte sich das warme, wohltuende Gefühl der Sicherheit gemischt, das
der Vater ihr gab, der neben ihr stand und sie behütete. Sie hatte zu ihm
aufgeblickt, er hatte sie angelächelt und gesagt: »Ich liebe dich, mein kleiner
Schatz ...«
    Aber dann war ihre Mutter gestorben, und der gütige Vater hatte
sich bald darauf in ein gefährliches Ungeheuer verwandelt.
    »Lebt jemand aus Ihrer Familie in
Merrymeeting?«
    Delia drehte sich verblüfft um. Vor ihr stand der hagere Reverend
Caleb Hooker. Er lächelte, und Delia fiel auf, daß seine oberen Schneidezähne
leicht vorstanden. Das gefiel ihr, denn es machte ihn etwas menschlicher.
    »Ich gehe nach Merrymeeting, um einen Witwer mit zwei kleinen
Töchtern zu heiraten«, erwiderte sie und lächelte ebenfalls.
    »Ach, ich verstehe«, sagte er, aber es klang, als verstehe er es
keineswegs. Aus seinem Mund hörte sich das an, als sei ihr Vorhaben unmöglich.
Würde sie wirklich ein neues Leben beginnen, eine ehrbare und angesehene
verheiratete Frau werden?
    Es war eine quälende Frage, die Delia im Augenblick jedoch entschlossen
zur Seite schob.
    Delia und der Reverend sahen sich schweigend
an, dann drehten sie sich beide wie auf Befehl um und blickten zum Bug der
Fähre, wo Elizabeth auf dem Ochsenkarren saß und Tyler Savitch neben ihm stand.
Er blickte zu ihr auf und sagte etwas, worüber sie lachte. Aber im nächsten
Augenblick richtete sie ihre Augen wieder auf die Bibel, die sie mit ihren
schneeweißen Händen fest umklammerte.
    »Meine Frau ... hat Angst vor der Fahrt in die
Wildnis«, sagte Caleb zu Delia. »Sie ist am liebsten im Haus und sitzt am
Spinnrad oder am Webstuhl.« Er nahm den breitkrempigen Hut ab und fuhr sich mit
der Hand durch die dünnen hellbraunen Haare. »Die Fahrt wird sehr schwierig für
sie werden. Aber wenn wir erst einmal in unserem Pfarrhaus in Merrymeeting
sind, wird alles gut sein«, fügte er schnell hinzu, und es klang, als versuche
er, sich selbst davon zu überzeugen.
    Delia lächelte ihm ermutigend zu. »Ganz bestimmt«, sagte sie
freundlich nickend.
    »Werden Sie zu den Andachten kommen?«
    »Hm ...«, Delia wurde rot und starrte auf ihre nackten Zehen, die
unter dem Rocksaum hervorkamen. »Eigentlich bin ich nie viel in die Kirche
gegangen.«
    Ein leises Lachen ließ beide die Köpfe heben.
Tyler Savitch trat zu ihnen. Das dunkelblaue Wasser hatte
verblüffenderweise genau die Farbe seiner Augen. Er hatte die Finger in den
Hosenbund geschoben. Die Fransen an seinem Hemd wehten im Wind. Seine Brust hob
und senkte sich im Rhythmus der Wellen. Er schien so im Einklang mit dem
Schiff, dem Fluß und dem ganzen Land, daß Delia ihn um sein Glück und seine
Zufriedenheit beneidete.
    »Ich fürchte, Sie werden in Merrymeeting keine große Gemeinde und
noch weniger Heilige finden«, sagte er mit dem fröhlich spöttischen Lächeln,
das

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