Penelope Williamson
wieder setzte ihr Herz einen
Schlag aus.
»Delia ...«, flüsterte er. »Ich sehne mich nur nach dir ... nach
dir allein ...« Seine Lippen warteten fragend über ihrem Mund.
Sie drehte den Kopf beiseite. »Ich will zum Gasthaus zurück, Tyl!«
stieß sie halb schluchzend hervor.
Er richtete sich auf. »Bitte, wie du willst. Ich werde dich nicht
daran hindern.«
Aber Delia rührte sich nicht von der Stelle.
Sie versuchte, ihm nicht in die Augen zu sehen, obwohl sich alles in ihr nach
seinem Blick sehnte. Sie würde schwach werden, und dann wäre es um ihre Ehre
geschehen. Sie hatte lange genug im Goldenen Löwen gearbeitet, um genau zu
wissen, wann und wie ein Mann seinen Willen bei einer Frau durchsetzen konnte.
Ein paar Mal war sie auch mit Tom Mullins nicht vorsichtig genug gewesen, und
er hätte sie beinahe mit seiner Leidenschaft überwältigt.
Tyl will nur mit mir schlafen, dachte sie unglücklich, daran gibt
keinen Zweifel mehr.
Doch das machte ihr im Grunde weniger Angst.
Sie fürchtete sich sehr viel mehr vor dem heftig klopfenden Herzen und dem heißen
Sehnen, das ihren Körper in seiner Nähe erfaßte. Delia mußte sich in diesem
Augenblick eingestehen, daß sie von ihm geliebt werden wollte. Und davor hatte
sie Angst.
Entschlossen drehte sie sich um und ging zum Dorf zurück. Sie
schlug so heftig auf den Rock, um die Blätter und kleinen Zweige abzuschütteln,
daß ihre Hand schmerzte. Sie tat es auch in der Hoffnung, dadurch wieder zur
Vernunft zu kommen.
Sie hörte ihn zweimal rufen, aber erst als sie feststellte, daß er
ihr folgte, blieb sie stehen.
»Wenn du lange genug in dieser Richtung gehst, Delia«, rief er,
»dann bist du bald wieder in Boston.«
Die Verlegenheit trieb ihr die Röte ins Gesicht. Sie wagte immer
noch nicht, ihn anzusehen. »Diese blödsinnigen Pfade ... sie sehen alle gleich
aus. Warum stellen sie hier keine Wegweiser auf?«
Tyl lachte. »Du bist schon komisch!« Er trat einen Schritt zurück,
wies mit der rechten Hand in die richtige Richtung und verneigte sich spöttisch
vor ihr. »Nach Ihnen, gnädiges Fräulein ...«
Seite an Seite kehrten sie zum Wirtshaus zurück. Aber sie
berührten sich nicht und sprachen kein Wort miteinander. Als sie den Wald
verließen und den Weg erreicht hatten, wurde der Abstand zwischen ihnen sogar
noch größer.
Elizabeth Hooker
blickte durch das Ölpapier des Giebelfensters auf die Silhouetten der Bäume vor
dem silbergrauen Himmel.
Zu Hause in Boston, im Pfarrhaus neben der Kirche in der Brattle
Street, würde ihr Vater jetzt die Öllampe auf seinem Schreibtisch anzünden und
an der Wochenpredigt arbeiten. Ihre Mutter saß auf der Sitzbank vor dem Feuer
und bereitete die Wolle für das Spinnen am nächsten Tag vor. Ihre beiden
jüngeren Schwestern strickten und redeten vermutlich über neue Seidenbänder,
die sie am Nachmittag gekauft hatten, oder überlegten, welche Kuchen sie für
das Gemeindetreffen am Samstag backen sollten.
Elizabeth schloß die Augen und versuchte, die vertraute Szene vor
sich zu sehen. Die Flammen des Feuers, die sich im Teegeschirr spiegelten, der
Rauch von Vaters Pfeife, der seinen Kopf wie einen Heiligenschein umgab, das
schwingende Pendel der Glasuhr, deren ständiges Ticken es im Zimmer nie still
werden ließ, und die leisen Stimmen ihrer Schwestern, die ihr immer das Gefühl
gegeben hatten, nicht allein zu sein.
Sie kämpfte mit den Tränen, und ihre Lippen
zuckten. »Ich will nach Hause!« rief sie laut, und ihre Stimme hallte dünn in
der leeren, armseligen Kammer des Wirtshauses wider. »Caleb, bitte, fahr mit
mir nach Hause ...« Aber ihr Mann war nicht da, um ihr Flehen zu hören.
Nach kurzem Schweigen seufzte sie tief und
schlug die Augen wieder auf. Die schwarzen Bäume vor dem Fenster standen so
unbewegt wie zuvor. Elizabeth haßte den Wald. Sie wußte in diesem Augenblick,
daß sie Merrymeeting ebenso verabscheuen würde. Alles in dieser Wildnis war so
roh und schmutzig. Der Kopf schien ihr zu zerspringen, und ihr schmerzte jeder
Knochen im Leib. Nach dem langen Tag auf dem Ochsenkarren tat ihr buchstäblich
alles weh, und ihre Kehle war vom Staub wie ausgedörrt. Überall, im Gesicht, am
Hals und an den Händen, hatte sie rote, juckende Stiche.
Als die Wipfel unter dem dunklen Himmel langsam zu schwanken
begannen, glaubte sie, das Seufzen des Windes zu hören und den bevorstehenden
Regen riechen zu können. Sie bekam sofort wieder
das flaue Gefühl im Magen, als sie sich an die Worte des
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