Penelope Williamson
das knirschende Geräusch von Schuhen hörte. Sie
drehte sich um und sah ihm entgegen.
Er blieb vor ihr stehen. Er
blickte forschend in ihr Gesicht und sie in das seine.
»Sie schläft«, sagte er
schließlich. »Sie schlafen beide – sie und das Kind.«
Sie hatte ihm soviel zu sagen
... unendlich viele Dinge. Aber so wenige waren erlaubt und noch weniger
angebracht.
»Später«, fuhr er fort, »wenn
sie aufwacht, wird sie sich bei Ihnen bedanken wollen.«
»Aber ich
habe nichts getan.«
Er griff
nach ihrem Arm und hob ihre Hand hoch. Selbst im fahlen Licht zeichneten sich
die blauen Flecken und die Spuren der Nägel deutlich auf der blassen Haut ab.
»Sie sind
gekommen«, sagte er.
Er ließ sie los, und ihre Hand
sank so langsam nach unten, als sei sie gewichtslos. Die Hand schien plötzlich
kein Teil von ihr, sondern etwas völlig Losgelöstes zu sein.
Sein Blick
wanderte von ihrem Gesicht über die Bucht. Die aufgehende Sonne malte mit
Aquarellfarben rote und gelbe Flecken an den Himmel. »Manchmal ist es eine
wahre Freude zu sehen, wie die Sonne an einem neuen Tag aufgeht.« Er wendete
den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Auf sein Gesicht trat ein Lächeln, das
strahlender war als jeder Sonnenaufgang. »Würden Sie das nicht auch sagen, Miss
Tremayne?«
Sie nahm
das Lächeln als das Geschenk, das es war, nicht mehr und nicht weniger, und
deshalb erwiderte sie es. »Ich würde sagen, Mr. McKenna, daß ein neuer Tag die
größte Freude der Welt sein kann.«
Die Sonne
stieg golden und prächtig über die Giebeldächer des Herrenhauses, als Emma die
Verandastufen hinaufstieg und durch die Ebenholztür ging. Das Haus lag in
frühmorgendlicher Stille; die marmorne Eingangshalle war kalt und grau wie ein
Mausoleum. Emma schloß die schwere Tür leise hinter sich und ging auf Zehenspitzen
durch die Halle zur breiten Eichentreppe. Doch im Vorübergehen sah sie in dem
großen Spiegel neben dem Geländerpfosten aus weißer Jade, wo vor vielen Jahren
eine Tochter der Tremaynes verbrannt war, ein blasses Gespenst.
»Mama?«
rief Emma, und vor Angst klang es wie ein Krächzen. Sie wäre lieber einem
Dutzend Gespenster gegenübergetreten, als von ihrer Mutter dabei ertappt zu
werden, wie sie etwas Unschickliches tat.
»Wie konntest du nur, Emma? Wie konntest du mir das
antun?« Emmas Schritte waren beim Anblick ihrer Mutter unsicher geworden. Doch
jetzt zwang sie sich, bis zum Fuß der Treppe weiterzugehen. Ich bin kein Kind
mehr, dachte sie. Man kann mich nicht mehr schlagen, mich nicht mehr in den
Keller sperren, und diesmal weiß ich in meinem Herzen, daß ich nichts Unrechtes
getan habe. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst die Hose zugeknöpft lassen
und die Beine nicht breit machen, bis der Ring an deinem Finger steckt«, sagte
ihre Mutter in einem so schwerfälligen Georgia-Dialekt, daß Emma Mühe hatte,
sie zu verstehen.«
»Mama, du
hast niemals ... Was sagst du da?«
»Du bist erledigt, entehrt. Die
ganze Familie ist erledigt. Du hast ihm einfach gegeben, was er wollte, nicht
wahr? Jetzt wird er dich niemals heiraten. Du ...« Bethel wurde plötzlich
bleich und sie wirkte verstört. »Gütiger Gott, hat er dir Gewalt angetan?«
Emmas Augen
folgten dem entsetzten Blick ihrer Mutter. Die Vorderseite ihres Abendkleids
aus grünem Seidenchiffon hatte rostrote Flecken von getrocknetem Blut. Im
ersten Augenblick konnte sie sich nicht erklären, wie Brias Blut an ihr Kleid
gekommen war, doch dann erinnerte sie sich, daß sie das Kind gleich nach der
Geburt in den Armen gehalten hatte.
»Oh!« rief
Emma, und flammende Röte überzog ihr Gesicht, als sie die volle Bedeutung der Worte ihrer Mutter erfaßte. »Es
ist nicht, was du denkst! Du irrst dich. Mrs. McKenna hat heute nacht ihr Kind
bekommen. Ich war bei ihr, nicht bei Geoffrey.«
Ihre Mutter
kam mit unsicheren Schritten näher, schwankte und sank auf die unterste
Treppenstufe. Sie schlang die Arme um die Knie und wiegte sich hin und her. Als
sie zu Emma aufblickte, zog sich eine silberne, nasse Tränenspur über ihre
Wangen. Emma bemerkte, daß sich die schwarzen Pupillen so geweitet hatten, daß
man kaum noch das Blau ihrer Augen sah.
»Nicht,
was ich denke, nicht was ich denke ... Was hätte ich sonst denken sollen?«
fragte Bethel schaudernd. »Ich stelle fest, daß dein Bett mitten in der Nacht
leer ist, und du bist nirgends zu finden. Du sagst, du fühlst dich schwach und
mußt dich hinlegen. Dann fällt Mr. Alcott plötzlich ein, daß er
Weitere Kostenlose Bücher