Penelope Williamson
Schultern
gekrümmt. Beim Anblick ihres Vaters sprang sie auf und rannte vor ihm durch die
offene Tür ins Haus. Emma blieb zwischen den Veilchen stehen, die sie und Bria
gepflanzt hatten. Es kam ihr vor, als gäbe es keine Verbindung mehr zwischen
den einzelnen Teilen ihres Körpers. Sie fühlte sich wie eine Marionette, die
schlaff an ihren Fäden hing.
Sie hörte
hinter dem Milchwagen ein lautes Summen. Merry kam zwischen den großen
Hinterrädern des Wagens hervorgekrochen. Sie stand im Lichtkreis der grellen
Lampe und sah Emma mit großen ernsten Augen an. »Mam braucht Sie«, sagte die
Kleine, und es dauerte einen Augenblick, bis Emma begriff, daß Merry
tatsächlich gesprochen hatte.
Emma
raffte ihr Chiffonkleid und kauerte sich auf die Erde, so daß sie sich in
Augenhöhe mit dem kleinen Mädchen befand. Ihre Zunge war schwer, und Emma wußte
nicht, ob sie ihr gehorchen würde. Sie hatte die letzten Stunden unaufhörlich
geplaudert. Jetzt, wo es wirklich wichtig war, etwas zu sagen, schienen ihr die
Worte zu fehlen, ja sogar der Atem, um etwas über die Lippen zu
bringen. Sie hatte ihr Leben lang große Schwierigkeiten mit Worten gehabt –
Worte finden und zu vergessen, Worte sich sparen und sie verschwenden, immer
gab es das Problem mit den richtigen Worten.
»Deshalb
bin ich hier«, sagte sie schließlich. »Obwohl ich nicht weiß, was es nützen
wird, wenn ich dabei bin. Was ich über eine Geburt weiß, würde in einen
Fingerhut passen, und dann wäre immer noch genug Platz für den Finger.«
Merry
lachte hell und fröhlich. Sie kam hüpfend näher und faßte Emma bei der Hand.
»Wir sollten ins Haus gehen, weil das Baby nämlich kommt. Noreen sagt, die Feen
werden es bringen, aber das ist albern. Es wird aus Mamas Bauch und zwischen
ihren Beinen herauskommen.«
Sie zog an
Emmas Hand, half ihr beim Aufstehen, und als Emma stand, ergriff sie auch ihre
andere Hand und schwang beide Arme hin und her. Merrys Hände waren feucht und
klebrig. Sie mußten unbedingt einmal ordentlich gewaschen werden.
Das wenigstens kann ich. Ich
kann einem kleinen Mädchen die Hände waschen.
Bei diesem Gedanken stieg ein
schwer zu begreifendes warmes Gefühl in Emma auf, etwas völlig Ungewohntes. Es
war das kostbare Gefühl, dazuzugehören und gebraucht zu werden.
Merry hörte auf, die Arme zu
schwingen, und blickte zu ihr auf. »Sie dürfen uns nie wieder verlassen.«
Emma
merkte erst, daß sie weinte, als sie spürte, wie ihr die Tränen zwischen den
Lidern hervorquollen. »Nein, das ... werde ich nicht tun.«
Merry ließ ihre Hände los und
rannte über den Pfad. Sie hüpfte wie ein Kaninchen mit beiden Beinen auf den
Treppenabsatz, blickte zu Emma zurück und wartete.
»Merry?« sagte Emma mit
gepreßter, brechender Stimme. »Du kannst sprechen.«
Das Mädchen verlagerte das
Gewicht von einem Bein auf das andere. Es summte einen lang anhaltenden Ton,
der alles oder nichts bedeuten konnte, und verschwand im Haus.
Die Küche
war hell erleuchtet, denn alle Petroleumlampen brannten. Aber niemand war dort.
Emma ging langsam in das Schlafzimmer, so wie sie ihr Leben lang in viele
Zimmer gegangen war – schüchtern, befangen und unsicher.
Bria lag in
einem weißen Eisenbett. Sie hatte die Knie unter dem Bettuch angezogen und
gespreizt. Sie umklammerte mit beiden Händen das eiserne Bettgestell hinter
ihrem Kopf. Ihr Rücken glich einem gespannten Bogen. Das dünne
Baumwollnachthemd klebte schweißnaß an ihrem geschundenen Körper. Sie atmete
schwer durch den offenen Mund, und dabei entstand in ihrer Brust ein rasselndes
Röcheln.
Shay stand
am Waschgestell. Er hatte die Jacke ausgezogen, die Hemdsärmel hochgerollt und
wusch sich die Hände in einer blau gesprenkelten Emailleschüssel. Emma war an
der Tür stehengeblieben. Er drehte sich nach ihr um. Er hatte vor Anspannung
weiße Linien um die Mundwinkel, und in seiner Wange zuckte neben der Narbe ein
Muskel.
»Die
Hebamme ist nicht gekommen«, sagte er.
»Sie hat
Angst, daß sie sich bei Mam die Schwindsucht holt«, erklärte Noreen. »Niemand
kommt mehr zu Mam, weil alle Angst haben, sich bei ihr anzustecken.« Sie stand
neben der Tür, drückte den Rücken und die Hände gegen die Wand und wirkte wie
ein Soldat. Merry stand stumm und still neben ihr.
Beim Klang
der Stimmen hatte Bria den Kopf gedreht. Ihr Gesicht schien nur noch aus dünner
blasser Haut zu bestehen, die sich straff über die schönen starken Knochen
spannte. »Emma, mo Bhanacharaid ...«
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