Penelope Williamson
hinein. Sie umklammerte Emma mit den Beinen, hielt sie fest
und schluchzte. Allmählich verstummte ihr klägliches Summen. Emma drückte sie
beruhigend an sich, obwohl sie unter dem Gewicht schwankte und kaum das
Gleichgewicht halten konnte.
»Ich werde kommen«, versprach
sie dem zitternden kleinen Mädchen. »Du kannst dich darauf verlassen, ich
werde kommen.«
Shay hörte Emma im Schlafzimmer, wo sie seine Tochter tröstete.
Merry hatte nichts mit ihm zu tun haben wollen. Noreen war nach nebenan zu Mrs.
Hale gegangen, um das Baby zu holen, und war dort geblieben. Offenbar hatte sie
auch keine Sehnsucht nach ihm. Er konnte den beiden Mädchen keinen Vorwurf
machen, denn er war in letzter Zeit nicht oft da gewesen, um seine Kinder zu
trösten. Heilige Mutter Gottes, dachte er, ich habe mich selbst nicht trösten
können.
Emma erschien in der Tür und
legte eine Hand an den Türrahmen. »Merry schläft«, sagte sie. »Ich habe ihr eine
Wärmflasche an die Füße gelegt, damit sie sich nicht erkältet.«
Er
versuchte zu lächeln, doch es gelang ihm nicht. »Sie vollbringen wahre Wunder.«
Seine Stimme klang noch rauher als sonst. »Ich meine, bei beiden Mädchen und
auch bei dem Kleinen. Und ich weiß, ich habe mich bei Ihnen nicht ordentlich
bedankt. Großer Gott, ich habe mich überhaupt nicht bei Ihnen bedankt.«
Er hatte
noch keine Frau zuvor gekannt, der es gelang, so erfreut zu wirken, wenn man
ihr ein Kompliment machte. Er sah, daß die Freude wie ein Lichtschein über ihr
Gesicht zog und in ihren Augen strahlte.
Nur, wenn man sie zum ersten
Mal sieht, dachte er, wirkt sie hochmütig und unnahbar.
Inzwischen wußte er jedoch, daß
dieses Verhalten für sie die einzige Möglichkeit war, ihre Verletzlichkeit zu
verbergen. Jedesmal, wenn sich ihm wieder ihre Zerbrechlichkeit offenbarte,
überkam ihn das erschreckende Gefühl, eine Entdeckung gemacht zu haben, als sei
er der erste Mann, der das in ihr sah.
Jetzt zeigte sich diese Verletzlichkeit daran, wie sie
sich in seiner Küche umsah und nicht in der Lage war, seinem Blick zu begegnen.
»Sie haben Kaffee gemacht«, sagte Emma nach einer Weile. »Aber Sie haben nichts
davon getrunken.«
Er saß am
Tisch und beobachtete, wie sie zum Herd ging, wie sie die blau emaillierte
Kaffeekanne vom Feuer nahm und wie sich die Muskeln ihres weißen schlanken Arms
dabei spannten. Ihre Haare waren wieder trocken, aber ein paar Strähnen hatten
sich gelöst und lagen wie Federn um Hals und Nacken. Schwere Regentropfen hingen
an der Fensterscheibe und warfen unruhige Schatten auf ihr Gesicht.
Sie brachte
die Kanne zum Tisch, und ihm entging nicht, wie sich die Rundung ihrer Brust
gegen die Hemdbluse preßte, als sie den Kaffee in zwei Blechbecher goß. Ihr
Kopf neigte sich zur Seite, und er sah ihre Nackenwirbel. Er wollte die zarte
Haut dort berühren. Er wollte die Wirbel und die Weichheit ihrer Haut unter
seinen Fingern spüren.
Seine Hand
auf der Wachstuchdecke ballte sich zur Faust. Er zog sie vom Tisch und legte
sie in seinen Schoß. Er spürte, wie sein Herz langsam und schmerzhaft klopfte.
Ein solches
Verlangen hatte er noch nie gekannt – doch, einmal, vor langer Zeit, aber er
hatte es vergessen. Der Hunger und das Sehnen danach können im Verborgenen in
einem Menschen lebendig sein und dann zum Vorschein kommen, wenn er es am
wenigsten erwartet, auch selbst wenn er sich dagegen wehrt.
Emma
stellte die Kaffeekanne ab und nahm das Buch in die Hand, das auf dem Tisch
lag. Er hatte in den langen Stunden der vergangenen Nacht darin gelesen. In
letzter Zeit schlief er nicht viel. Er hatte so viele Jahre mit Bria neben sich
geschlafen. Jetzt schien es, als könne er ohne sie nicht mehr zur Ruhe kommen.
Deshalb war Shay in den letzten Wochen auch ein regelmäßiger Besucher von Rogers
Leihbibliothek gewesen.
Sie drehte
das Buch in ihrer Hand und las laut den Titel auf dem Rücken: »Anna Karenina ...« Emma seufzte. »Dieser
Roman wird Sie zum Weinen bringen«, sagte sie, und er beobachtete, wie sich die
Röte der Erinnerung an das Gelesene auf ihren Wangen ausbreitete. Er sah den
Pulsschlag an ihrem Hals. Sie öffnete erschrocken über ihre Kühnheit den Mund
und hielt den Atem an. Er hätte beinahe gelächelt.
»Ein harter
Kerl wie ich wird deshalb bestimmt nicht gleich weinen. Aber vielleicht wird es
meine Augen ein klein wenig weicher machen.«
Sie
errötete noch mehr. Dann lachte sie leise, und es klang schüchtern. In ihrer
Verlegenheit hob sie den
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