Penelope Williamson
mein Boot stehlen!« rief sie vorwurfsvoll, obwohl sie keinen anderen
Beweis dafür hatte, als daß er sich an einer Stelle befand, wo er nichts zu
suchen hatte.
»Ah Dhia«, erwiderte er mit seiner rauhen Stimme, und es klang wie eine stumpfe Säge
im nassen Holz. »>Stehlen< ist ein hartes Wort ...«
Vermutlich
übertrieb er seine irische Aussprache bewußt, so als sei seine Herkunft eine
Auszeichnung. Er stand hoch aufgerichtet, groß und dunkel vor dem grauen
Wasser. Mit seinen breiten Schultern stemmte er sich gegen den Wind, und die
kräftigen Beine glichen mühelos das Schwanken der verwitterten Planken aus. Die
schwarze Matrosenjacke machte ihn noch größer.
Sie dachte unwillkürlich an
Piratenboote, die in mondlosen Nächten zum Ufer glitten, an mit Tuch umwickelte
Ruder und an die stummen dunklen Schatten gefährlicher Männer.
»Sie befinden sich auf privatem
Gelände!« rief sie. Auch ihre Stimme klang rauh, als habe sie viele hundert
Jahre kein Wort gesprochen. »Der ganze Poppasquash Point gehört uns, den
Tremaynes. Sie haben hier nichts zu suchen!«
Er warf mit dramatischer Geste
den Kopf zurück und blickte zum grauen nassen Himmel auf.
»Gott helfe uns, als nächstes
wird sie mir sagen, den Reichen von Bristol gehört die Luft, die ich atme.«
Er
überraschte sie durch seine Schnelligkeit. Er verließ den Landungssteg und kam
auf sie zu, bevor sie auch nur daran denken konnte, sich umzudrehen und
davonzulaufen.
Je näher er kam, desto größer
und bedrohlicher schien er zu sein. Trotzdem lief sie nicht davon. Er kam so
dicht heran, bis sie nur noch eine Handbreit trennte.
Sie hob den
Kopf und sah ihn an. Trotz der etwas schiefen Nase und der Narben – oder
vielleicht gerade deshalb – hatte sein Gesicht etwas Faszinierendes. Er hatte
kühne, aber irgendwie auch gebrochene Augen. Sie waren außergewöhnlich schön
und hatten eine Farbe wie Flaschenglas, das vom Meer poliert und von der Sonne
durchglüht ist.
Er blickte
auf sie hinunter, und ihr Herzschlag dröhnte lauter in ihren Ohren als die
Brandung, während sie darauf wartete, daß er Gott weiß was tat. Er ging jedoch
nur wortlos an ihr vorbei, allerdings so dicht, daß der Ärmel seiner Jacke sie
beinahe an der Wange gestreift hätte.
Emma sah
ihm nicht nach. Sie ging statt dessen in die andere Richtung. Sie betrachtete
scheinbar aufmerksam die nassen grünen Algen an den Pfosten des Stegs und
lauschte währenddessen auf das Knirschen seiner Stiefel im weißen Sand. Als sie
nur noch das Donnern und Klatschen der Wellen hörte und das Brausen des
Windes, drehte sie sich um.
Sie
stellte fest, daß er stehengeblieben war und zurückblickte. Bei diesem Anblick erfaßte sie eine ihr bis dahin unbekannte
Erregung, eine heiße Welle der Angst und unbestimmter Erwartungen. Sie wandte
ihm schnell den Rücken zu, holte tief Luft und schmeckte die kalte, salzige
Gischt auf den Lippen.
Als sie sich wieder umdrehte, war er verschwunden. Aber
sie sah och, wo ihre Fußabdrücke sich im Sand einander angenähert und wieder
getrennt hatten.
Es wurde
dunkel und zunehmend kälter. Trotzdem blieb Emma solange am Ufer stehen, bis
die steigende Flut die Fußabdrücke überflutet hatte.
Sechstes Kapitel
Der erste
Tag im Mai kam mit blauem Himmel und einem idealen Wind zum Segeln.
Emma segelte zum ersten Mal in
diesem Frühling mit der Icarus. Und als der Wind in das Hauptsegel fuhr
und es sich blähte, warf Emma den Kopf in den Nacken und lachte.
Sie fühlte
sich so frei und unbegrenzt wie der blaue Himmel.
Die
blendende Helligkeit zwang sie, die Augen zusammenzukneifen, als sie wie
gebannt über das weite Wasser dorthin blickte, wo sich der letzte Morgennebel
vom Wasser löste. Die Sonne war gerade aufgegangen. Die Welt schimmerte so
rosig wie die Innenseite einer Muschelschale, und das Boot neigte sich tiefer
ins Wasser, der Bug durchschnitt die Schaumkronen der Wellen, und hinter dem
Heck bildete das Kielwasser eine weiße, schäumende Spur. Sie hielt mit einer
Hand die Ruderpinne und in der anderen einen Sonnenschirm. Glücklich stemmte
sie sich mit beiden Füßen gegen das Süll und hielt das Gesicht in den Wind.
Dann überließ sie sich der seltsam rauschenden Stille eines schnellen
Segelboots in voller Fahrt.
Die
Mädchen in Bristol lernten ungefähr gleichzeitig laufen und segeln. Die
Tremaynes hatten ihre Reichtümer stets mit Schiffen erworben, und ihr Schicksal
war eng mit dem Meer verbunden. Das Meer und das Segeln lag ihnen im
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