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Penelope Williamson

Penelope Williamson

Titel: Penelope Williamson Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wagnis des Herzens
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Blut. Wenn
das Segeln nicht eine der geheiligten Traditionen der Tremaynes gewesen wäre,
hätte ihr Mama niemals erlaubt, alleine hinauszufahren. Und nur hier an Bord
der kleinen Segelyacht, die sich vom Wind davontragen ließ, fühlte sich Emma
wirklich frei.
    Trotzdem mußte sie den
gesellschaftlichen Regeln entsprechend ein Yachtkostüm von Worth tragen. Dazu
gehörten natürlich ein Hut und ein
Sonnenschirm, damit sich ihr Gesicht nicht rötete und die Haut, Schrecken über
Schrecken, womöglich von der Sonne gebräunt würde.
    An diesem
Tag wollte sie weit hinaus und Poppasquash Point und den Leuchtturm auf Hog
Island umsegeln, so daß sie nach dem Wenden lange und ausdauernd gegen den Wind
zur Stadt und zum Hafen kreuzen konnte. Es würde Stunden dauern, aber darum
kümmerte sie sich nicht. Auf dem Wasser kannte die Zeit wie der Horizont keine
Grenzen. Die Welt bestand nur aus Sonne, See und Wind.
    Emma hatte
nie gewagt, die Bucht zu verlassen und hinaus auf das offene Meer zu segeln, obwohl
sie sich oft vorstellte, genau das zu tun. Einmal hatte sie im Atlas
nachgesehen, wo sie ankommen würde, wenn sie von Bristol aus geradewegs nach
Osten segeln würde. Auf der Landkarte entdeckte sie einen Hafen in Portugal mit
dem Namen Viana do Castelo.
    Beim
Segeln dachte sie fortan mit Vorliebe an eine portugiesische Hafenstadt mit
roten Ziegeldächern und engen gepflasterten Straßen, an einen kleinen sonnigen
Hafen und an sanfte Hügel, auf denen Olivenbäume wuchsen und Wein angebaut
wurde. Obwohl sie sich danach sehnte, wußte Emma, sie würde nie nach Viana do
Castelo segeln. Die Einsamkeit und die vielen Gefahren des Ozeans schreckten
sie nicht, aber sie fürchtete sich vor seinen unendlich vielen Möglichkeiten.
Als sie schließlich den Wendepunkt erreichte, stand die Sonne hoch am Himmel
und zauberte Spitzenkrägen aus Licht auf die Wellen. Die Konturen der Stadt,
der Bäume und Dächer hoben sich in der Ferne deutlich vor dem Himmel ab.
    Wie schon
so viele Seeleute vor ihr entschied sie sich, den Kirchturm von St. Michael
anzusteuern. In St. Michael waren in den letzten zweihundert Jahren alle
Tremaynes getauft und zu Grabe getragen worden – mit Ausnahme all jener, die
wie ihr Bruder von den Wellen verschlungen worden waren.
    Der Wind blähte die Segel. Das
Boot durchschnitt die Wellen, hob und senkte sich klatschend. Sie näherte sich
dem Ufer und passierte ein paar Männer in einem Ruderboot, die mit langen
Harpunen Aale aus dem Wasser holten. Schließlich sah sie die prächtigen Häuser
der Hope Street und das gewölbte Dach des Bahnhofs. Dann näherte sie sich der
Baumwollspinnerei mit den hohen schmalen Fenstern und Schornsteinen, aus denen
weißer Rauch quoll.
    Die
Spinnerei stand unmittelbar am Rande des Hafens. Sie hatte einen eigenen Kai,
dessen Piers wie die Zähne eines Kamms ins Wasser ragten. Emma reffte das
Hauptsegel und ließ das Boot zu einem der Eisenpfähle treiben. Die rauschende
Stille des Windes brach sich in einer Welle aus Lärm. Das Stagsegel knatterte,
eine Möwe stieß einen lauten Schrei aus, ein Mann sang bei der Suche nach
Muscheln, und über allem lag das ununterbrochene Dröhnen der unzähligen
Spindeln im Innern der Spinnerei.
    Emma
vertäute das Segelboot und hakte geschickt und schnell die Taue an Deck an die
Klampen. Doch sie ging nicht an Land – noch nicht.
    So lange,
viel zu lange in ihrem Leben war Emma Tremayne alles immer zugestoßen. Sie
mußte sich niemals um etwas bemühen. Manchmal geschahen Dinge, ohne daß sie
wußte, warum, und oft, ohne daß sie überhaupt Kenntnis davon nahm. Deshalb dauerte
es eine Weile, bis sie richtig begriff, was sie eigentlich tun wollte. Und
danach brauchte sie noch länger, um den Mut aufzubringen, das Abenteuer zu
wagen.
    Langsam
richteten sich ihre Augen auf den aus roten Klinkern gebauten, hohen Torbogen
der Spinnerei in der Thames Street. Dort war der irische Junge tödlich
verunglückt.
    Emma war in den besten Häusern von Bristol gewesen, aber sie
hatte mit den glänzenden weißen Stiefelchen noch nie einen Schritt in die
Spinnerei gesetzt. Hinter dem wuchtigen, eisenbeschlagenen Tor neben einer
Stechuhr und den endlosen Reihen kleiner gelber Karten blieb sie zögernd
stehen. Um sie herum bebten Wände und Böden unter dem Stampfen der Maschinen.
    Ein magerer Mann in einem
glänzenden schwarzen Anzug – er trug wendbare Papiermanschetten – verließ bei
ihrem Anblick ein Holzhäuschen, das Emma an den Wachturm eines

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