Penelope Williamson
hinaus ins Freie, um ihre Wangen dem Wind und der Kälte
auszusetzen, damit sie so rot würden wie eine geschälte Tomate.
Die Halbstiefel knirschten auf
dem winterlich frostigen Gras. Die herannahende Nacht warf bereits ihre
schwarzen Schatten auf den vergehenden Tag. Die tief ziehenden Wolken
versprachen noch mehr Regen.
Als sie das
Ende des Rasens erreicht hatte, drehte sich Emma um und blickte zurück. Der
erste William Tremayne, ein Sklavenhändler, hatte 1685 The Birches im
damaligen Stil eines wuchtigen und massiven »Plantagenhauses« erbaut. Aber
seine Erben, die Piraten, Walfänger und Kaufleute, hatten es mit Flügeln und Erkern
versehen, mit Türmen und Kuppeln, mit Bögen und Brüstungen. In über
zweihundert Jahren hatten heiße Winde vom Meer im Sommer, Stürme im Herbst und
Schneestürme im Winter die Schindeln, welche die Mauern bedeckten,
ausgebleicht, und sie waren inzwischen von einem hellen Silbergrau wie die
Rinde der Birken, denen das Haus seinen Namen verdankte.
Meist
wirkte The Birches mit den steilen Giebeln und den Veranden, die das
Haus wie die weiten Röcke einer Gouvernante umgaben, märchenhaft und fast schon
verzaubert. Aber an diesem Abend duckte es sich trotzig unter dem grauen
Himmel. Es wirkte wie eine abweisende Festung gebaut aus Regeln, Vorwürfen,
Pflichten und all den Dingen, die man tun und nicht tun durfte.
Das
Gaslicht im Zimmer ihrer Schwester flackerte und erlosch. Bereits als Emma das
Zimmer verließ, hatte sie gewußt, daß Maddie nach der Flasche mit dem
Chloralhydrat greifen würde, die in der Schublade ihres Nachttischs stand. Ihr
Onkel war Arzt und hatte ihr das Chloralhydrat gegen Schmerzen im Rücken und in
der Hüfte verschrieben. Maddie hatte Emma einmal gestanden, daß sie die Medizin
meist jedoch nahm, um ihren Kummer zu vergessen. »Ich habe dann so schöne und
angenehme Träume«, sagte sie.
Arme
Maddie ...
Emma wandte
dem Haus den Rücken zu und ging in den Birkenwald. Sie folgte einem alten
Indianerpfad, der entlang einer zerfallenen Mauer zur Bucht führte. Von den
kahlen weißen Zweigen tropfte Wasser auf ihren unbedeckten Kopf. Die
verwelkten, nassen Blätter auf dem Pfad verströmten einen schwermütigen Geruch
ähnlich vergessenen alten Liebesbriefen. Die Welt hatte jegliche Farbe verloren
und bestand nur noch aus Schwarz, Weiß und Grau.
Emma dachte
daran, daß diese Mauer und die weißen Birken ihr Leben als stumme Zeugen
beobachtet hatten. Sie kannten jene Emma, die sie wirklich war, während sie
sich selbst ein Geheimnis blieb. Sie hatte das Gefühl, stets einen Teil ihres
Wesens zurückgehalten, für etwas Besonderes bewahrt zu haben. Und jetzt
überkam sie die schreckliche Angst, sie würde diesen Teil für immer aufbewahren
müssen, und wenn sie starb, würde somit vieles ihrer selbst völlig ungenutzt
geblieben sein.
Als Emma unter den Bäumen
hervorkam und den Strand erreichte, trieb ihr der Wind kalten Regen von der
Bucht ins Gesicht. Sie senkte den Kopf, und deshalb sah sie den Mann, der auf
dem Landungssteg stand, erst, als sie das Ufer beinahe erreicht hatte.
Der
Landungssteg gehörte zum Bootshaus und schob sich weit hinaus in die klatschenden Wellen. Hier ankerte Emmas kleine
schlanke Segelyacht, die Icarus, und wartete darauf, in den ersten
Frühlingstagen mit ihr die neue Saison zu beginnen. Emma hörte das gedämpfte
Knarren der Mastspitze und das Wasser, das gegen die Bordwand schlug. Auch
Willies Boot hatte hier gelegen, aber jetzt war sein Anlegeplatz leer.
Am Ende des Stegs stand der
vorlaute und dreiste Ire von der Fuchsjagd. Er stand auf ihrem Landungssteg.
Er mußte
sie bereits gesehen haben, denn er stand mit dem Rücken zum Wind und zu den
Wellen und sah sie an. Im letzten Licht des Tages konnte sie sein Gesicht nicht
erkennen, doch bei seinem Anblick blieb sie wie angewurzelt am Strand stehen.
Eine Möwe
flog auf und stieß über ihrem Kopf einen durchdringenden Schrei aus. Die
schäumenden Wellen machten gurgelnde Geräusche, wenn das Wasser die
muschelverkrusteten Felsen und die Kieselsteine überspülte. Der Wind zerrte an
ihren Haaren, die Nadeln lösten sich, und die Haare flogen ihr um den Kopf wie
ein nasses Tuch und legten sich ihr über die Augen.
Weder der Mann noch sie
bewegten sich. Sie hätten jetzt die einzigen Menschen auf Erden sein können.
Emma brach
den Bann, indem sie nach ihren Haaren griff und die Strähnen um das Handgelenk
schlang, damit sie ihn besser sehen konnte.
»Sie
wollten
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