Penelope Williamson
ans Licht kommen und einen
Skandal auslösen. Sie stellte sich vor, selbst einmal etwas so Aufregendes zu
tun, obwohl sie bezweifelte, daß sie jemals den Mut dazu aufbringen würde. Ganz
gewiß würde Geoffrey niemals auf solche Gedanken kommen.
Aber in all
den Jahren, die sie Miss Liluth kannte, hatte Emma nie mit ihr über den Mann
gesprochen, den sie geliebt und auf so tragische Weise verloren hatte. Die
starken Gefühle ihrer unerfüllten Liebe trieben Liluth Carter dazu, jeden
Dienstag zum Bahnhof zu fahren, um auf einen Mann zu warten, der niemals
zurückkommen würde. Aber kein Mensch sprach je laut über diese Gefühle, und so
waren sie einfach nicht vorhanden.
Emma
wußte, sie würde nie die Geheimnisse kennenlernen, die Miss Liluth in ihrem
Herzen bewahrte. Sie würde die nächste Stunde wie schon unzählige Male zuvor in
ihrer Gesellschaft verbringen, doch sie würden vermutlich wieder einmal nur
über das Wetter sprechen. Eine Dame mußte jederzeit in der Lage sein,
Konversation zu machen, und das bedeutete, in erster Linie über das Wetter zu
sprechen. Emma machte sich oft Gedanken darüber, warum sie alle so viel
Anteilnahme an den Elementen der Natur zeigten, obwohl sie sich ihnen selten
genug aussetzten. Doch die Damen von Bristol sorgten sich mehr um das Wetter
als die Fischer.
»Das Wetter«, sagte Miss
Annabelle Carter und gab damit das Stichwort, »ist in letzter Zeit sehr
unbeständig.«
»Das ist
immer so in dieser Jahreszeit«, fiel Bethel ein. Ihre Worte klangen so
vorwurfsvoll, als wolle das Wetter sie persönlich damit ärgern. »In den Winter-
und Sommermonaten bleibt es wenigstens beständig, und man weiß, was man zu
erwarten hat.«
Emma warf
ihrer Schwester einen belustigten Blick zu, und sie lächelten verstohlen. »Ich
finde das unberechenbare Wetter so anstrengend«, sagte sie. »Findest du nicht
auch, Maddie?«
Ihre Schwester antwortete mit
einem stummen Lachen. Sie ging auf das Spiel ein. »Ja wirklich! Aber ich habe
festgestellt, daß man besonders beim Wetter keine feste Meinung haben darf.«
»Als mein Charles in den Krieg
fuhr, hat es geregnet«, erklärte Miss Liluth. »An Regentagen bin ich immer so
traurig. Vielleicht wird morgen wieder die Sonne scheinen.«
Bethel beugte sich vor und
legte sanft der anderen Frau begütigend die Hand auf den Arm. »Ganz bestimmt,
meine Liebe ...«
Emma mußte
unwillkürlich schlucken. Ihr schien etwas in der Kehle zu stecken, und ihr war
seltsam nach Weinen zumute. Dort saß Miss Liluth und wartete seit beinahe
dreißig Jahren auf einen toten Mann. Miss Carter, ihre Schwester, erschien
Woche für Woche im Haus ihrer großen Liebe, aber der Mann hatte eine andere
geheiratet. Und ihre eigene Mutter war von eben diesem Mann verlassen worden.
Sie hungerte und folterte sich seinetwegen mit einem zu eng geschnürten
Korsett und benahm sich, als werde sie ihm nachher beim Abendessen
gegenübersitzen.
Doch es verstieß in ihrer Welt
gegen alle Regeln des Anstands, auch nur andeutungsweise über Gedanken und
Gefühle zu sprechen. Emma fragte sich, was geschehen würde, wenn nur einmal
jemand das Unaussprechliche aussprechen würde.
»Letzte Woche ist ein Junge in
der Spinnerei ums Leben gekommen«, sagte Emma.
Ihre Worte hallten in der Stille des Salons so laut und
bedrohlich wider wie Steine, die am Grund eines tiefen Brunnens aufschlagen.
Dann seufzte Miss Liluth tief und stellte klappernd ihre Teetasse auf den
Tisch. »Oje!«
Miss
Carter rümpfte so heftig die Nase, daß sie bebte. »Man sagt, diese Irin ist mit
ihm ausgerechnet bei der letzten Fuchsjagd erschienen. Unvorstellbar und so
unberechenbar wie ...«
»Wie das
Wetter«, sagte Emma.
Miss Liluth
nestelte an der Spitzenrüsche um ihren Hals. »Oje, oje!«
Jetzt legte ihre Schwester ihr die Hand auf den Arm.
»Schon gut, Liluth, reg dich nicht auf. Habe ich nicht erst heute morgen
gesagt, man kann sich nicht mehr darauf verlassen, daß die mittleren und
unteren Schichten wissen, wohin sie gehören?«
Bethel schnalzte mit der Zunge
und schüttelte den Kopf. »Die Ordnung der Gesellschaft zerfällt vor unseren
Augen.«
»Zerfallen
... das ist sehr gut ausgedrückt, Mama.« Emma
hörte selbst die wachsende Hysterie in ihrer Stimme, aber sie konnte es nicht
verhindern. »Der Junge ist regelrecht skalpiert worden, und die Maschine hat
ihm einen Arm ausgerissen. Er ist verblutet.«
Bethel sah ihre Tochter mit
völlig unbeteiligtem Gesichtsausdruck an, aber in ihren dunkelblauen
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