Penelope Williamson
Wasser
blendete sie. Das Haus schien wie eine silberne Wolke über der Bucht zu
schweben, und zwar dort, wo das Wasser mit dem hellen Himmel verschmolz.
»Bei Gott«, murmelte sie noch
immer nach Luft ringend. »Es sieht wirklich wie ein Märchenschloß aus.«
Aber dann bemerkte Bria, wie
Noreen ihre kleine Schwester mit großen Augen anstarrte.
»Was
gibt es?« fragte sie Noreen. »Was sagt die Kleine denn?« Noreen blickte auf
ihre Mutter. »Sie ... sie sagt, der Engel, der heute in der Spinnerei war,
wohnt dort drüben in dem großen silbergrauen Haus am Wasser und ...«
Merry summte und nickte so
heftig mit dem Kopf, daß ihre Locken auf und ab tanzten.
»Und sie
wird dich in das Haus dort mitnehmen«, beendete Noreen den Satz hastig und
sprang ebenfalls auf. »Mama, das darfst du nicht zulassen! Der Engel darf dich
uns nicht wegnehmen!«
»Was
für dummes Zeug!« Bria wollte lachen, aber sie verstummte. Ich werde euch
nicht verlassen, wollte sie ihren Kindern versprechen. Ich werde euch
nie ... niemals verlassen.
Aber die Worte kamen ihr nicht
über die Lippen, weil sie nicht der Wahrheit entsprachen.
»Dummes
Zeug!« wiederholte sie statt dessen, doch sie konnte verstehen,
was bei ihrer Merry, dem Feenkind, diese seltsamen Phantasien ausgelöst hatte.
Ein Engel
... ja, die Frau schien ein Engel gewesen zu sein,
etwas Überirdisches und Außergewöhnliches, als sie plötzlich auf dem Laufsteg
hoch über ihnen erschienen war, während die Sonnenstrahlen durch die schmalen
Fenster auf sie fielen, so daß es den Anschein hatte, die Luft um sie herum
flirre und pulsiere vor Helligkeit. Bria kniete nieder und legte die Arme um
die beiden Mädchen. »Die Dame, die heute in die Spinnerei gekommen ist ..., sie
ist kein Engel. Sie ist nur eine sehr vornehme und hübsche Frau, aber bestimmt
kein Engel. Und ganz sicher wird sie mit Leuten wie uns nichts zu tun haben
wollen.«
Merry
summte ..., es klang wie ein schönes süßes Traumlied. Sie begann, leicht hin
und her zu schwanken, und schloß die zuckenden Lider. Noreen sprach für sie,
und auch ihre Worte klangen verträumt.
»Sie sagt, wir sollen keine
Angst haben, denn der Engel wird alle unsere Wünsche erfüllen.«
Noreen sah
ihre Mutter flehend an.
Sie ist wie
ich, dachte Bria. Sie wünscht sich ein Wunder, sie hofft inständig auf ein
Wunder, und doch kann sie nicht aufhören, unablässig nach einem Haar in der
Suppe zu suchen. Merry dagegen mit ihren phantastischen und unwirklichen
Träumen glich mehr ihrem Vater.
»Kommt, Kinder«, murmelte Bria
seufzend und drückte die beiden fester an sich. »Wir müssen nach Hause gehen.«
Doch sie
bewegte sich nicht von der Stelle und kniete noch eine ganze Weile im kühlen
feuchten Sand. Die Mädchen in ihren Armen schienen so zart und verwundbar.
Bria wollte
nichts anderes, als sie ewig schützend an ihr Herz zu drücken.
Auf dem Nachhauseweg begegneten sie den Arbeitern, die von
den Zwiebelfeldern kamen. Die Männer trugen Hacken auf den Schultern, und von
ihren Händen baumelten die zu Zöpfen geflochtenen begehrten
roten Bristol-Zwiebeln. Bria hielt nach ihrem Mann Ausschau, aber sie
entdeckte ihn nicht.
Als sie
den Crow's Nest Saloon erreichten, blieb sie stehen, stellte sich auf die
Zehenspitzen und blickte über die halbhohe Schwingtür. Sie suchte unter den
Männern, die sich an der Bar drängten, seine große, vertraute Gestalt. Aber
auch dort war er nicht.
Ihr Haus stand
an der Uferseite der Thames Street – eine Holzhütte auf Pfählen mit zwei
Zimmern. Es hatte ein Dach aus Teerpappe, und die Wände waren gegen die
durchdringende Kälte der Neuenglandwinter mit Seegras ausgestopft. Das Haus
unterschied sich sehr von dem dunklen schilfgedeckten Shibeen, wo sie
früher gewohnt hatten.
An manchen
Tagen schloß Bria die Augen, und in ihrer Vorstellung tauchte jede Mauer und
jedes Kartoffelfeld ihres Dorfes in Irland wieder auf. Sie spürte den Verlust
des Lebens in der alten Heimat und wußte, die große klaffende Lücke würde sich
nie mehr schließen. Dann zwang sie sich, die Augen wieder zu öffnen und den
Blick auf ihre Töchter und ihren Mann zu richten, auf ihre Familie, die sie so
sehr liebte. Sie lenkte ihre Gedanken auf das Land, in das sie gekommen waren,
auf das große und reiche Amerika, so voller Leben, Träume und Hoffnungen. Ach,
dieses Amerika konnte einem mit seinen vielen Versprechungen das Herz brechen.
Als Bria in
den ungepflasterten Weg einbog, ging sie bereits so schnell,
Weitere Kostenlose Bücher