Pepe Carvalho 01 - Carvalho und die taetowierte Leiche
verprügelt hatte. Das ließ er im Klo verschwinden. Das andere war sein eigenes, ein ausgezeichnetes mexikanisches Exemplar, das ihn seit seinen Streifzügen durch die Baja California begleitete.
Er zog das Hosenbein hoch und steckte das Messer in ein Futteral im Innern seines Stiefelschaftes. Dann kehrte er an seinen Platz zurück. Die alte Französin schlummerte. Carvalho nutzte die verbale Feuerpause, um sich auf die Fakten zu konzentrieren, die ihn zu dieser Reise veranlaßt hatten. Die gesichtslose Leiche jenes Mannes – ›groß und blond wie das Bier‹ – tauchte ständig vor seinem geistigen Auge auf. Unbewußt ergänzte er immer wieder das fehlende Gesicht, und manchmal war es das von Jean-Pierre Aumont in
Scherezade
, dann wieder das von Tab Hunter. Vielleicht war er ein blonder Yves Montand mit weniger clownesken Zügen. Das Lied, das ihm Bromuro ins Gedächtnis gerufen hatte, fiel ihm plötzlich wieder ein, wenn auch etwas verdreht:
Er kam mit einem Schiff
aus einem fremden Land
.
Ich traf ihn abends am Hafen
.
Seine bittere Stimme klang traurig
,
schmerzvoll und müde wie das Akkordeon
…
So ungefähr. Ein anderes Mal hieß es:
Er war groß und blond wie das Bier
,
seine Brust tätowiert mit einem Herzen
…
Es war das Lied einer Frau, die dem schönen Fremden verfallen war, dem schönen Seemann, der eine Nacht, eine einzige Nacht lang in ihr Leben getreten war. Gab es diese Frau im Fall des tätowierten Mannes, dem er nachspürte? Seine Gestalt besaß genug von dem geheimnisvollen Etwas, in dem sich eine Frau verfangen konnte wie ein Vogel im dichten Geäst.
»Geheimnisvolle Männer sind klebrig«, sagte Carvalho halblaut. La Pomadas könnte diese Frau sein. Es war bereits ein Anhaltspunkt, daß der Mann eine Zeitlang ein und dieselbe Prostituierte aufgesucht hatte. Ohne Zweifel gab es irgendwo, an einem Ort, den Carvalho nicht kannte, die Frau aus dem Lied, die in der Lage war, ihm alle oder fast alle Geheimnisse des großen Blonden zu enthüllen. Der Wortlaut der Tätowierung war ebenfalls verblüffend. Ein Legionär aus der Zeit zwischen Weltkrieg und Bürgerkrieg, der, trunken von Literatur und Lebensverachtung, mit dem Gewehr in der Hand und ein paar Versen von Apollinaire auf Abenteuer auszog, war eine Sache für sich. Das konnte im letzten Drittel dieses Jahrhunderts nicht vorkommen. Die Leute, so dachte Carvalho, hatten gemerkt, daß man nur zu dem fähig ist, was im Rahmen der eigenen Möglichkeiten liegt. Niemand erfindet sein Leben, wie man sich einen Roman ausdenkt.
In allen Häfen suche ich ihn
,
jeden Seemann frag ich nach ihm
,
ob er lebt oder tot ist, ich such ihn immer noch treu
…
Die Stewardess tippte ihm auf die Schulter und riß ihn aus seiner Versunkenheit. Sie deutete mit einem Lächeln ihres vollen, gesunden Gesichtes auf den Sicherheitsgurt. Sie hatte Rouge auf den Wangen, und ihr langes Haar war von einem Kastanienbraun, das ins Rötliche spielte, wie man es in Spanien nicht findet. Carvalho folgte mit den Augen ihrem Rundgang, als sie kontrollierte, ob die Sicherheitsgurte angelegt, die Zigaretten ausgemacht und die Rückenlehnen hochgeklappt waren. Sie sieht sehr gut aus, dachte er. Er fühlte, wie das erotische Fieber des Fremden, der neue Städte mit neuen Frauen gleichsetzt, von ihm Besitz ergriff. Jede Reise müßte unweigerlich zu einer neuen faszinierenden Frau führen, das wäre das richtige Ziel, die beste Endstation! Warum nicht die Stewardess? Carvalho versuchte, ihren Blick ins Netz des eigenen Blicks zu locken, aber sie musterte die Passagiere mit professioneller Gleichgültigkeit und betrachtete Carvalho, wie man einen Gegenstand betrachtet, den man numeriert und abgelegt hat.
Carvalho vergaß seine erotischen Anwandlungen und reckte den Hals, um hinter der alten Französin das geradlinige Grün von Holland zu betrachten, das immer größer wurde, je tiefer sie flogen. Die alte Dame versuchte, ihn in ein Gespräch über Holland zu verwickeln. Carvalho erklärte, er kenne Amsterdam, Rotterdam und Leiden. Die Dame aus Frankreich fuhr nach Rotterdam, sie besuchte dort ihre Tochter, die Gattin eines Florettlehrers, der Hollands Olympiamannschaft betreute. Ob Carvalho auch nach Rotterdam fahre?
»Nein. Nach Amsterdam.«
Obwohl Den Haag sein eigentliches Ziel war, wollte Carvalho Amsterdam zum Ausgangspunkt machen. Zumal Entfernungen in Holland nicht existieren, schon gar nicht zwischen Amsterdam und Den Haag oder Rotterdam. Aber auch weil
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