Pepe Carvalho 01 - Carvalho und die taetowierte Leiche
aufstehen?«
»Ja.«
»Das Haus verlassen?«
»Ja.«
»Sie haben wirklich Glück gehabt. Also gut. Fahren Sie morgen nach Rotterdam, und seien Sie um drei Uhr nachmittags auf einem Turm am Hafen, von dem man alle Molen überblicken kann. Ein sehr lohnendes Ausflugsziel! Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß Rotterdam den größten Hafen Europas besitzt. Der Hamburger Hafen ist zwar berühmter, aber der von Rotterdam ist weitaus bedeutender. Gehen Sie nicht bis zum obersten Stockwerk, bleiben Sie im Zwischengeschoß. Gehen Sie dort zur Westseite, stellen Sie sich an die Brüstung, und genießen Sie das großartige Schauspiel, das der Hafen bietet. Für alles übrige sorge ich!«
»Ich hoffe, man wird mich nicht zwingen, vom Turm zu springen!«
»Waffenstillstände und Vereinbarungen haben wir stets respektiert.«
Unvermittelt verlor Singels Stimme jeden berechnenden oder belehrenden Unterton und paßte sich völlig den Umständen eines Krankenbesuches an. »Wenn Sie auf sich aufpassen, können Sie bald gesund und munter nach Spanien zurückkehren! In welcher Stadt wohnen Sie?«
»In Barcelona.«
»Eine schöne Stadt! Früher verbrachten meine Frau und ich unseren Sommerurlaub immer in San Feliu, einem kleinen Dorf an der Costa Brava. Kennen Sie das Hotel Edenmar?«
»Es gibt Tausende von Hotels.«
»Es war immer sehr schön. Aber jetzt haben wir eine andere Richtung eingeschlagen, wir fahren nach Jugoslawien. Diese wilde, beeindruckende Natur! Allerdings ist das Land weniger touristisch erschlossen als Spanien. Ist der Trainer der Fußballmannschaft von Barcelona nicht ein Holländer?«
»Ich glaube schon.«
»Michels, ein sagenhafter Typ. Kein brillanter Stratege, aber sehr willensstark. Er hat die Mannschaft von Ajax zu dem gemacht, was sie heute ist. Er ist der Entdecker von Cruyff, Neeskens und Keiser. Haben Sie die Asse von Ajax schon einmal spielen sehen?«
»Als ich das letzte Mal in Amsterdam war, konnten sie noch nicht einmal ihre Stiefel richtig zubinden.«
»In letzter Zeit waren sie die Besten der Welt. Ihr Spiel ist dynamisch und ungeheuer schnell. Mir gefiel Keiser schon immer besser, obwohl Cruyff der Star ist. Keiser ist ein aggressiver Spieler, hart, gerissen, genial. Wie der Engländer Best, aber stärker.«
Mynheer Singel erging sich darin, den Ruf von Feyenoord schlecht zu machen, der Mannschaft von Rotterdam, dem ewigen Rivalen Amsterdams.
»Feyenoord ist eine Mannschaft ohne Klasse, genau wie ihre Heimatstadt. Die Bomben des Zweiten Weltkriegs haben Rotterdams Schönheit zerstört, heute ist es eine Stadt ohne Charakter. Amsterdam dagegen besitzt beides, Schönheit und Charakter.«
Carvalho hatte inzwischen erkannt, daß Singel sich nicht über ihn lustig machte, sondern einfach die Ebene gewechselt und sich der neuen Sachlage mit vorbildlicher Disziplin angepaßt hatte. Deshalb wunderte er sich nicht, daß er ihn beim Abschied aufforderte: »Bitte zögern Sie nicht, sich jederzeit an uns zu wenden, wenn Sie etwas brauchen sollten! Meine Frau und ich werden Ihnen stets gerne behilflich sein. Sollten Sie infolge des bedauerlichen Mißgeschicks von gestern noch Beschwerden haben, rufen Sie uns an! Wir besorgen Ihnen dann einen Arzt, der Sie in aller Ruhe behandelt. Es ist nicht einzusehen, warum man ohne Sinn und Zweck Aufsehen erregen sollte.«
Singel legte zum Abschied die Hand an die Schläfe und verließ das Zimmer auf Zehenspitzen, wie um jedes Geräusch zu vermeiden, das das hypersensible Gehör des Rekonvaleszenten belasten könnte. Carvalho weigerte sich, über die Szene nachzudenken, die er soeben erlebt hatte. Er war hungrig und hatte Lust auf optische Genüsse. Also sprang er aus dem Bett und kleidete sich an.
Ein junger Mann, der geboren wurde, das Inferno aus den Angeln zu heben, gibt seine sichere Stellung in einem internationalen Unternehmen auf und beginnt, schmutzige Geschäfte zu betreiben, schmutzige Geschäfte mit Rauschgift. Wenn man das, was Singel angedeutet hat, mit den Razzien nach der Entdeckung der Leiche in Beziehung setzt, gibt es keine andere Erklärung. Singel behauptet, bis kurz vor Carvalhos Ankunft in Amsterdam nichts vom Tode Chesmas gewußt zu haben. Aber in einer anderen Stadt läßt ein kleiner Geschäftsmann, der im Büro eines nichtssagenden Friseursalons hockt, Nachforschungen anstellen, um die Identität des Toten herauszufinden. Ein offensichtliches Mißverhältnis. Die Motive von Señor Ramón mußten der zentrale Punkt des
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