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Pepe Carvalho 01 - Carvalho und die taetowierte Leiche

Pepe Carvalho 01 - Carvalho und die taetowierte Leiche

Titel: Pepe Carvalho 01 - Carvalho und die taetowierte Leiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuel Vazquez Montalban
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ein Exemplar von
New York Times
und
Le Monde
. Seit zwei Monaten hatte er keine Zeitung mehr in der Hand gehabt, und wie es schien, hatten sich die Dinge seitdem nicht verändert. Hätte er nicht die letzte Konsequenz des Schwachsinns, den er las, am eigenen Leib zu spüren bekommen, hätte er geglaubt, der Inszenierung eines Albtraums von Verrückten und Gaunern beizuwohnen; reif fürs Zuchthaus, die ganze Bande der großen Herren der Welt. Er brauchte die
New York Times
nicht mehr zu lesen, die drei ersten Seiten von
Le Monde
hatten ihm schon genügt. Lieber betrachtete er eine Landschaft, die ständig sich selbst wiederholte, oder die Gesichter der Leute, die auch immer wieder die gleichen waren. Seit ein paar Stunden ließ ihn das Bild von Señor Ramón nicht mehr los, wie er ihm am Tisch gegenübergesessen hatte. Seine gebleichte, sommersprossige Haut, das Wissen in diesen kleinen, harten Augen, den Augen eines eiskalt berechnenden Tieres. Er schien am Ende des Weges angelangt zu sein, auf den ihn dieser Mann geschickt hatte, und dabei waren so viele Fragen aufgetaucht, daß der Fall ihn ganz persönlich in seinen Bann gezogen hatte. Die Reise nach Rotterdam kam ihm wie eine Ewigkeit vor, denn er ahnte, daß der größte Teil der Antworten auf die neu aufgetauchten Fragen nicht in Holland zu finden sein würden. Er fühlte sich besessen von den Nachforschungen, wie früher, als ihn ein Rätsel nicht eher losließ, bis er es gelöst hatte. Es war, als entdeckte er eine verlorene, wenn auch schmerzbereitende Kraft wieder: die Fähigkeit zur Begeisterung.
    Die Coosingel begann fast vor dem Hauptbahnhof von Rotterdam und verband ihn in gerader Linie mit dem Hafen. Das ganze Zentrum Rotterdams war nach dem Krieg unter funktionalistischen Gesichtspunkten wieder aufgebaut worden, so daß praktisch eine ganz neue Stadt entstanden war. Er nahm ein Taxi zum Hafen, um mit einem der kleinen Schiffe eine Rundfahrt zu machen, die die endlosen Molen abklapperten. Dabei wollte er sich in die zerbrochene Logik des Falles vertiefen. Er betrat ein Boot der Firma Spido voller lärmender Schüler, für die sich mit jedem Schuppen und jeder Reede, wo Schiffe aus aller Welt vor Anker lagen, neue Welten auftaten. Die Farbe rostigen Eisens wechselte ab mit dem Aquarellweiß der Schiffsrümpfe und dem Wirrwarr von Tausenden Kränen, die in der Mittagsträgheit versanken. Ein alter und leistungsfähiger Hafen ohne den legendären Ruf von Hamburg oder New York; das Spektakuläre waren seine riesigen Dimensionen und seine Leistungsfähigkeit.
    Das Mißverhältnis zwischen Señor Ramón und Singel war ebenso groß wie das zwischen Señor Ramón und Quetas Friseursalon. Ein Mann, der soviel Macht ausstrahlte wie dieser Alte, mußte mehr in der Hinterhand haben als einen Friseursalon für Damen. Die Vermutung lag nahe, daß er ebenfalls zu diesem Netzwerk gehörte, für das Singel und Chesma in vorderster Reihe tätig waren. Singel tarnte sich in Amsterdam mit dem neonbeleuchteten Schild
Patrice Hotel
, und Señor Ramón tarnte sich in Barcelona mit dem Schild
Salon Queta
. Eine offensichtliche Parallele zwischen den beiden Gestalten. Aber was verband sie mit Chesma? Warum kannte Singel Chesmas Namen und Gesicht, und warum war er für Señor Ramón nur ein Fragezeichen?
    Die Barkasse tauchte in den Schatten eines riesigen japanischen Ozeandampfers ein; die Schüler machten Schlitzaugen und riefen den Seeleuten etwas in einer Sprache zu, die sie für diese Gelegenheit eigens erfanden. Es gab Dutzende von Molen, wo Schiffe abgewrackt wurden, und hier erlebten die Passagiere einen kurzen Moment lang die tiefgreifende Veränderung, die mit toten Schiffen vor sich geht. Sie betrachteten den verrosteten Rumpf oder das bloßgelegte Skelett mit ebensoviel Respekt wie eine Leiche bei der Autopsie. Sogar die Kinder verstummten, als wären sie auf einem Schlachthof. Die Julisonne schlug weiße Feuerzungen aus den Hemden. Im Vorbeifahren sah Carvalho, wie die Bevölkerung von Rotterdam sich sonnte, ausgestreckt auf den breiten grünen Ufern der Grachten oder auf den Parkbänken der Mittagsruhe hingegeben. Charo war vermutlich zum Schwimmen nach Castelldefels oder ins
Piscinas y Deportes
gegangen. Sonnenbräune stand hoch im Kurs in ihrem Gewerbe, und auch Carvalho liebte den Kontrast der braunen Haut mit den hellen, sehr hellen Stellen ihres Körpers. Vielleicht hatte der Alte die Antwort schon gekannt, als er ihm den Auftrag gegeben hatte? Aber warum?

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