Pepe Carvalho 01 - Carvalho und die taetowierte Leiche
zu einer Prostituierten gehen oder sich auf ein langes verbales Scharmützel mit ungewissem Ausgang einlassen. Das ganze einleitende Zeremoniell, die ganze Phase der Überredung war ihm lästig. Diese Art Kommunikation sollte automatisiert werden. Ein Mann sieht eine Frau an, und die Frau sagt ja oder nein, und umgekehrt. Alles, was darüber hinausgeht, ist Zivilisation.
Carvalho betrachtete der Reihe nach die Gesichter im Restaurant, um festzustellen, ob sich eines seiner direkten Kommunikation darbot. Kein einziges angenehmes Frauengesicht. Er schraubte sein normales Anspruchsniveau herunter und warf einer reifen Frau Blicke zu, die mit einer kurzsichtigen Heranwachsenden an einem Tisch saß und aß. Natürlich war es eine Notlösung. Aber Carvalho ließ seinen Blick auf dem breiten Gesicht der Dame ruhen und wartete darauf, daß sich ihre Blicke begegnen würden. Sie begegneten sich, und die Frau begann eine üble Komödie von Witzeleien mit der Heranwachsenden und warf dabei verstohlene Seitenblicke auf Carvalho. Es war ihm klar, daß er ihr nur neuen Stoff für ihre Träume lieferte, nichts weiter. Er machte eine imaginäre Kerbe in den Pistolenschaft, wo er seine platonischen Eroberungen verzeichnete. Frauen sind fast überall auf der Welt gleich.
Verärgert, daß die Frau über die Ebene eines platonischen Abenteuers nicht hinausgehen würde, hörte er auf, sie anzuschauen. Er verließ das Restaurant mit Salbeiaroma auf der Zunge und in der Nase. Bummelte ohne bestimmtes Ziel durch die Straßen und stand eine halbe Stunde später plötzlich vor dem Rijksmuseum. Gegen Museen war er allergisch, vielleicht als Ausgleich für die begeisterte Bewunderung, die er früher für ihre kathedralische Stille empfunden hatte, und für die Ekstase angesichts der vielen konventionellen Werte. Heute würde er jeden Rembrandt gegen einen schönen Frauenarsch oder einen Teller
Spaghetti Carbonara
eintauschen.
Er ging zum
Paradiso
. Der Mitgliedsausweis mußte erneuert werden, denn der erste war beim Bad der letzten Nacht unleserlich geworden. Anstatt sich in den Chor der Kirche zu begeben, ging er über die Seitentreppe nach oben. In einem geräumigen Salon blätterten mehrere Jugendliche in Zeitschriften oder versuchten, ausgeschnittene Bildteile zu Collagen zusammenzufügen. Andere standen an der Theke einer kleinen Bar. Sie hatten denselben lustlosen, desillusionierten Ausdruck wie die Leute, die er tags zuvor im Chor gesehen hatte. Er durchquerte das Zeitungsarchiv und kam zu einer Theke, an dem ein Pärchen in Hippiekleidung Gebäck verkaufte. In dem Gebäck war Haschisch enthalten: ein jämmerlicher Hohn auf die Kunst des Essens. Was kann man von einer Jugend erwarten, die nichts vom Essen versteht und sich auch nicht dafür interessiert? Carvalho kaufte ein arabisch aussehendes Gebäck, um nicht zu sterben, ohne vorher die Speise des Infernos gekostet zu haben. Es schmeckte nach Anis, Mandeln, Mehl und einem seltsamen Stoff, der ebensogut Stutenschweiß oder göttliches Ambrosia sein konnte. Innerlich die Bäcker verfluchend, setzte er seinen Rundgang durch das obere Stockwerk fort. In einem Raum lief ein Film mit Gregory Peck vor einem Publikum, das ebenfalls aus Hippies bestand. Sie saßen auf Klappstühlen oder lagerten auf dem Fußboden. Der Film hieß
Wer die Nachtigall stört
. Nach dem vierten nervösen Zucken von Gregory Peck hielt er es nicht länger aus und stieg die Treppe hinab zum Mittelschiff. Dasselbe Bild, dieselbe Musik, derselbe psychedelische Anblick, derselbe Gestank im Dienste desselben Nichts, während die Polizei sie von innen und außen bewachte wie eine Herde Schafe, die brav zum Pferch trottet. Einen Moment lang hatte er Lust, mit seinem gesunden Auge den Saal nach Buffalo Bill oder den beiden Schafen abzusuchen. Er hatte das Gefühl, daß sie all diese bedauernswerten Leute in die Irre führten, die glaubten, die Glocken der Befreiung hätten geläutet, aber immer noch nicht wußten, wo.
Er stand spät auf. Als er nach seinem Auge sah, stellte er fest, daß der Bluterguß praktisch verschwunden war. Es war eher ein Schnitt als ein Schlag gewesen, das war jetzt zu erkennen, genau zwischen Braue und oberem Lid. Mit etwas Watte versuchte er, den Jodfleck abzuwischen. Das obere Lid war immer noch geschwollen, aber man konnte nicht behaupten, daß sie ihm ein Veilchen verpaßt hätten.
Die Reise nach Rotterdam wurde ihm lang. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit hatte er Zeitungen gekauft, je
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