Pepe Carvalho 01 - Carvalho und die taetowierte Leiche
schlug Carvalho die Fangzähne seiner Augen in die Schönheit ihrer weißen Kehle. Flüchtig blitzte in ihm der Verdacht auf, die Witwe Salomons sei in einer Filiale von
Actor’s Studio
in Rotterdam ausgebildet worden. Sie weinte wie Warren Beatty in
Fieber im Blut
. Dann verstummte sie, als träte sie von der Bühne ab, und ihre Trauer lag genau zwischen Theater und Film. ›Es gibt für alles Talente‹, dachte Carvalho und begann, mit den Fingern eine Orange zu schälen. Die Witwe erhob sich, um ihm ein Tellerchen für die Schalen zu holen. Dabei fiel ihm ein Bonmot von Juan Petit ein, seinem Professor für Französische Literatur, der einmal gesagt hatte: »Stellen Sie sich vor, der angsterfüllte Mensch Sartres hört mitten in einem Anfall von metaphysischer Angst ein Klopfen an seiner Tür. Er öffnet; es ist der Stromableser, der kassieren will. Wenn er bezahlen kann, gut. Dann kann er mit seiner Angst fortfahren. Aber wenn er nicht bezahlen kann, geht seine metaphysische Angst zum Teufel und die andere kommt.« Der Professor war ebenso geistreich wie angsteinflößend, mit seinem Jodzerstäuber, mit dem er immer versuchte, seine Asthmaanfälle zu bekämpfen.
»Entschuldigen Sie! Ich biete Ihnen hier ein Schauspiel!«
Carvalho machte eine uneindeutige Geste, die die Dame als Aufforderung deutete, sich Zeit zu lassen und sich keinen Zwang anzutun. In der Tat brach sie unter heftigen Zuckungen erneut in Tränen aus, feste, schwere Tränen, die hängenblieben. Carvalho aß die Orange auf und ging zum Wasserhahn, um seine Hände zu waschen. Durch das Fenster beobachtete er die Sonnenanbeter, die sich ihre Geschwüre an Körper und Geist vom ältesten und solidesten aller Götter austrocknen ließen. Er stützte den Hintern auf den Kühlschrank auf, vor sich das Bild des Jammers, dargeboten von der Witwe Salomons und den Orangenschalen auf einem Tellerchen aus Delfter Porzellan.
»Kannten Sie ihn sehr gut?«
»Ja. Das sagte ich doch schon. Was denken Sie jetzt von mir? Es ist mir sehr unangenehm.«
»Señora, die Dinge kommen, wie sie kommen. Ich möchte gerne einiges über meinen Freund erfahren. Seine Eltern sind sehr in Sorge. Seit beinahe zwei Jahren haben sie nichts von ihm gehört. Seine letzten Briefe kamen aus Amsterdam.«
»Danach lebte er fast die ganze Zeit in Rotterdam.«
»Hier?«
»Ja.«
»Hatte er immer noch Verbindung zu Singel?«
»Ja. Ich weiß nicht, ich weiß nicht.«
»Was wissen Sie nicht?«
»Ich weiß nicht, ob die Freundschaft mit Singel gut für ihn war. Sie bot ihm die Gelegenheit auszusteigen. Verstehen Sie? Er war nicht dafür geboren, ein einfacher Handlanger bei Philips zu sein.«
»Niemand wird geboren, um Handlanger zu sein.«
»Sie wissen schon, was ich meine. Er besaß eine angeborene Intelligenz. Er war wach. Kommen Sie!«
Die Witwe erhob sich und stieg die Treppe hinauf, die zum obersten Zimmer führte. Carvalho folgte ihr. Sie führte in einen Flur voller Bücherregale. Dazwischen hingen Drucke und echte Gemälde an den Wänden. Von dem Flur aus gelangte man in ein Schlafzimmer, ebenfalls voller Bücher. Am Fenster stand ein Arbeitstisch mit Blick auf den Garten, wo die Sonnenanbeter immer noch still ihrem Gott huldigten.
»Er hatte fast alles gelesen. Und ich glaube nicht, daß es einfache Bücher sind. Englisch las er fast fehlerfrei, er hatte in Amsterdam einen Intensivkurs gemacht. Er war ein Mensch – wie soll ich sagen – mit Tiefe.«
»Tiefgang.«
»Das ist es. Tiefgang. Er meditierte oft. Er dachte ausführlich über die Dinge nach. Und außerdem war er ein Rebell.«
Während die Witwe Salomons erzählte, ging sie im Zimmer auf und ab und hielt dabei die Ellbogen mit den Händen umfaßt. In zehn Minuten gab sie Carvalho eine exzellente Biographie von Julio Chesma. Er war in Puertollano geboren, in der Provinz Ciudad Real. In der Stadt herrschte eine ungeheure Umweltverschmutzung, ungeheuer! Dies betonte die Witwe. Er war Waise, natürlich, wohl infolge der Umweltverschmutzung, und wuchs im Waisenhaus auf, natürlich. Überall hatte er Spuren eines brutalen und verzweifelten Aufbegehrens hinterlassen. Dann zur Legion, natürlich. Kleinere Delikte und Gefängnis, natürlich. Dann hatte er sich in Bilbao eine Verlobte zugelegt und zum erstenmal festen Boden unter die Füße bekommen. Er besuchte Kurse in Abendschulen und beschloß, außerhalb Spaniens Arbeit zu suchen, um die Welt und alles kennenzulernen, was es nördlich und südlich von jedem
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