Pepe Carvalho 01 - Carvalho und die taetowierte Leiche
Warum hatte er ein Interesse daran, ihn auf diese Hin- und Rückfahrt zwischen einem Ausgangspunkt und einem Ziel zu schicken, die er beide genau kannte?
Als er von seinem Ausflug zu den Molen zurückkehrte, erwartete ihn eine bereits entwickelte Fotografie, die ihn zeigte, wie er gerade die Gangway betrat. Er erstand sie und begab sich zu dem Kontrollturm, der die Schuppen überragte. Weisungsgemäß blieb er auf der großen Aussichtsplattform unterhalb des obersten Stockwerks. Rechts und links ein Labyrinth von Molen und Docks und ein Wald von Kränen, die von dort wie ein Fadengespinst wirkten, eine gesponnene Vision in der Art geklöppelter Spitze, gesehen von einem pointillistischen Maler, in dessen Augen die Angst stand: Angst wegen der toten Natur, des Handels und der Industrie. Grüne, blaue, weiße und rote Schiffe. Schwarze Schiffe, die auf der Route des Bösen fuhren. Schiffe, die nach Norden, vor allem aber nach Süden fahren würden. In Carvalhos Adern regte sich der Drang zur Flucht.
Früher als verabredet war er an Ort und Stelle. Fast allein. In einem Winkel der Aussichtsplattform ein japanisches Paar, das sich vor dem Hintergrund des Hafens gegenseitig fotografierte. Dann erblickte er eine etwa dreißigjährige Frau, deren behandschuhte Hand über den Rand der Brüstung glitt, während sie ging. Sie folgte der Linienführung der Balustrade und schaute dabei unentwegt aufs Meer hinaus, wie um einen totalen und konstanten Überblick über das Schauspiel zu bewahren, das sich ihren Blicken bot. Über ihrer hinreichend entwickelten Brust baumelte ein Fernglas. Sie hatte eine große Nase, ein breites, sommersprossiges Gesicht und gepflegte rotblonde Haare, die ihr über die Schultern fielen. Sie trug ein ärmelloses grünes Kleid, und die Färbung ihrer Haut stammte vom Solarium, vielleicht war es auch der charakteristische zinnoberfarbene Teint der Rothaarigen. Sie hatte appetitliche Schenkel, obwohl man ihren Knöcheln den Zahn der Zeit oder die Kreislaufprobleme ansah. Carvalho begehrte sie einen Moment lang. Aber es erschien ihm unzivilisiert und destruktiv, eine Frau zu begehren, die er aus den Augen verlieren würde, sobald die Person auftauchte, die er hier treffen sollte. Die Frau näherte sich der Stelle, wo Carvalho am Geländer lehnte. Notgedrungen würde sie in ihrem Gang innehalten müssen, um das Hindernis Carvalho zu umgehen. Sie hielt an. Blieb stehen. Hier, eine Handbreit vor Pepes Körper. Schaute auf und dem Mann ins Gesicht, der ihre eigenartige Vorwärtsbewegung aufhielt. Ihre Lippen bewegten sich und fragten in unsicherem Spanisch: »Sind Sie der, den Singel geschickt hat?«
Sie stellte sich als Frau Salomons vor. Witwe Salomons, berichtigte sie. Sie fuhren mit dem Lift nach unten. Als der Fahrstuhlführer den Bremsvorgang einleitete, flüsterte sie Carvalho ins Ohr: »Stimmt es, daß Julio tot ist?«
»Ich glaube schon.«
»Wie schrecklich!«
Sie wirkte betroffen. Rasch ging sie vor Carvalho her und führte ihn zu einem Volvo, der am Fuß des Aussichtsturms geparkt war. Sie sprachen kein Wort, während sie zu dem am wenigsten neuzeitlichen Viertel von Rotterdam fuhren, und hielten in einer kleinen Straße mit Bäumen. An der Ecke schimmerte das Wasser einer Gracht. Sie öffnete ein Haustor, durch das sie auf einen Innenhof gelangten, wo sich ein Mädchen im Bikini und bärtige Jünglinge auf dem Rasen sonnten und sehr blonde Kinder mit einem Gummiball spielten. Die Witwe Salomons schloß die Tür zu ihrer Wohnung auf, und Carvalho stand unvermittelt in der hellen Wohnküche. Von der Küche aus führte eine Treppe zu den oberen Räumen. Die Frau bat Carvalho, auf einer der Bänke an dem weißgestrichenen Eßtisch Platz zu nehmen. Sie selbst setzte sich ihm gegenüber. Zwischen dem Mann und der Frau stand der Tisch und mitten darauf ein geflochtener Korb, in dem mediterrane Früchte leuchteten. Sie schien in Gedanken versunken, sah Carvalho nicht an, sondern starrte wie unter Zwang auf den eisernen Teekessel auf der kalten Herdplatte.
»Es ist schrecklich.«
»Kannten Sie ihn?«
»Sehr gut.«
Sie hob den Kopf und blickte zur Decke empor. In ihren Augen glänzten Tränen, und ihre Kehle schimmerte weiß; sie war breit, aber sehr schön.
»Sehr, sehr gut.«
Damit brach sie in Tränen aus. Carvalho spielte mit einer Pampelmuse, die offensichtlich mit einem Tuch poliert worden war, ebenso wie die Orangen und die Zitronen. Als sie ihr tränenüberströmtes Gesicht wieder hob,
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