Pepe Carvalho 01 - Carvalho und die taetowierte Leiche
Uhr?«
»Sie hinterläßt nur Spuren am Handgelenk und ist eine dumme Konvention.«
»Aber Sie finden es sicher sehr erfreulich, daß andere Leute Uhren tragen …«
»Allerdings. Das stimmt.«
Sie ließ Carvalho die Rechnung bezahlen, genau wie vorher im Café.
»Ein andermal holst du mich vom Laden ab, und dann bezahle ich. Abgemacht?«
»An welchem Tag?«
»Nicht drängeln!«
»Ich drängle ja gar nicht. Ich will nur, daß du mir Tag und Stunde nennst. Daß du mir Audienz gewährst!«
»Wie empfindlich! Ruf mich an. Das ist am besten!«
Sie holte ein Kärtchen mit der Anschrift der Boutique aus ihrer unergründlichen, bestickten Leinentasche. Carvalho steckte sie ein. Dann tat er etwas, was er bis jetzt nur äußerst selten getan hatte: Er gab Teresa die Adresse seines Hauses in Vallvidrera.
»Klar, du hast es nicht nötig, in Papis Landhaus zu gehen. Ist das dein Zuhause oder dein Liebesnest?«
»Beides.«
»Diese Männer! Immer habt ihr Möglichkeiten, die sich unsereins nicht erlauben kann.«
Sie gingen von der Calle Muntaner aus durch eine Passage, die fast in Höhe der Boutique auf die Calle Ganduxer mündete.
»Julio bekam ab und zu Briefe von einer alten Flamme in Amsterdam.«
»Ja, ich weiß schon, die Witwe Salomons. Einmal las er mir einen vor.« Sie brach in Gelächter aus, bevor sie weiterreden konnte. »Eine Art Literatur! Sie zitierte Verse von Catull. Den Rest kannst du dir vorstellen. Julio war ihr dankbar, denn sie hatte ihm Unterricht gegeben. Es stimmt, daß er sehr aufgeweckt und schnell von Begriff war. Ich lieh ihm Bücher, und er gab sie mir mit Unterstreichungen zurück. Er hatte das, was man als eine ›wegen mangelnder Chancengleichheit vernachlässigte Intelligenz‹ bezeichnen könnte. Aber es ging ihm nicht schlecht im Leben. Er verdiente mehr Geld als manch einer mit nicht vernachlässigter Intelligenz. All das ist sehr relativ. Weil er eben Geld verdiente, er machte mindestens den Eindruck. Immer Geld in der Tasche und immer gut gekleidet. Zu gut. Daran konnte auch ich nichts ändern. Er hatte eine fast religiöse Ehrfurcht vor Maßanzügen und Krawatten.«
»Er war geboren, das Inferno aus den Angeln zu heben.«
»Du weißt von der Tätowierung? Er erzählte mir, daß er immer sehr rebellisch war, von klein auf, im Waisenhaus, in der Legion, im Gefängnis. Weißt du, daß er im Gefängnis war? Ein Priester sagte einmal im Waisenhaus zu ihm: ›Du bist schlimmer als der Teufel!‹ Das erzählte er immer. In letzter Zeit fand er es immer sehr lustig, denn er war sich darüber im klaren, daß er wie ein Pascha lebte, daß sein Leben harmonisch und in geregelten Bahnen verlief und er andererseits diese Tätowierung trug.«
»Vielleicht ein Versuch, einen Teil seiner selbst zu bewahren.«
»Genau. Ruf mich in den nächsten Tagen an. Adiós.«
Damit betrat sie ihr Geschäft.
Nein. Das war nicht die Frau, die am müden Tresen die Rückkehr des jungen Seemanns erwartete, dessen Brust ein Herz zierte. Aber Carvalho war fest davon überzeugt, daß es im Leben von Julio Chesma diese Frau gab und daß es sich weder um die literarische und theatralische Witwe Salomons noch um die Spielerin Teresa Marsé handelte. Irgendwo, an einem Ort, den er nicht kannte, hatte er bei einer Frau mit seiner Vitalität und seiner Kraft einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen, bevor oder nachdem er den Weg zum Tod eingeschlagen hatte. Carvalho wußte nicht, ob es das Chanson selbst war, das ihn so faszinierte, oder ob er diese Faszination seinem Instinkt zuschreiben sollte. Ein Mann wie Julio Chesma konnte sich nicht mit einer neurotischen Mutti wie der Witwe oder einer Tennispartnerin wie Teresa Marsé zufriedengeben. Er brauchte eine Frau, die die Botschaft der Tätowierung, die rebellische Einstellung, bis zum letzten mit ihm teilte. Die Tätowierung war an eine Person adressiert, die das Leben von Julio Chesma ernst genommen hatte.
Er bestellte Charo und La Andaluza in eine Taverne nach Sant Cugat. Carvalho hatte es von Vallvidrera aus nicht weit, aber Charo kam mit einem Ärger dort an, der in ihrem kleinen Fiat kaum Platz hatte.
»Ich verstehe einfach nicht, warum du nicht zu mir kommen willst! Ich verstehe dieses Versteckspiel nicht.«
La Andaluza vermittelte. »Er wird schon seine Gründe haben.«
»Also, du hättest uns wenigstens bei dir zu Hause etwas zu essen machen können.«
»Ich habe schon etwas eingekauft, aber ich war einfach nicht in der Stimmung, etwas zu
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