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Per Anhalter (German Edition)

Per Anhalter (German Edition)

Titel: Per Anhalter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oke Gaster
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sofort klar gewesen, dass mit dieser Frau etwas nicht stimmte. Nur hätte er wirklich ahnen können, dass alles so kommen würde?
     
    Obwohl ihm schon klar war, dass sein Vorhaben nicht von Erfolg gekrönt werden würde, schleppte er sich hoch und drückte die Türklinke nach unten. Abgeschlossen. Logisch, oder?
    „Fuck!“ schrie er.
    Die Tapete neben der Tür war voller Schimmel, der sich in Form von schwarzen Punkten bemerkbar machte, die an Straciatella-Stückchen erinnerten. Der abgegrabbelte Kalender, der direkt neben der Tür hing, war ebenfalls voller Schimmel. Bestimmt war die Tür nicht hundert prozentig dicht und in Kombination mit mangelnder Belüftung war Schimmel folgerichtig die Konsequenz. 1996 stand auf dem Kalenderblatt. Und unten rechts in der Ecke war der Monat März in allen möglichen Sprachen angegeben.
    1996. War hier so lange niemand mehr in der Hütte? Ein seltsamer Gedanke, und merkwürdiger Weise war das Jahr 1996 der einzige Gedanke in Davids zerstreutem Kopf. 1996, da war ich gerade mal zehn Jahre alt. Sieben Jahre ist das her. Obwohl im März 1996 war ich erst neun. Da hätte ich nie gedacht, dass ich mal keine Beine mehr haben würde. Oder dass ich für ein Mädchen von Zuhause abhaue. Für ein Mädchen , pah! Ich glaube, mit neun habe ich noch gar nicht großartig an irgendwas gedacht. Ich hab übernächsten Monat Geburtstag. Da werde ich 17. Was ich da wohl machen werde? Vielleicht ist mein Geburtstag sogar schon gewesen und ich hab so lange im Koma gelegen oder so.
    Sehnsuchtsvoll verklärte Erinnerungen strömten durch seinen Kopf. Sie waren voller Zärtlichkeit und Schönheit, die ein warmes Gefühl durch ihn hindurch laufen ließen. Auch wenn es nicht immer einfach war, so hatte er doch eine schöne Kindheit gehabt. Nie bestand auch nur der geringste Zweifel daran, dass seine Mutter ihn abgöttisch liebte. Okay, dass sie immer mal wieder andere, komische Männer mit nach Hause brachte, konnte einem wirklich auf den Keks gehen, aber das war ihre Entscheidung, ihr Leben und hatte im Endeffekt  nichts damit zu tun, ob sie ihre Kinder liebte oder nicht. Er hatte seine Mutter besoffen erlebt, hysterisch, lethargisch und vor allem sehr oft unzufrieden mit sich und ihrem Leben und darüber hinaus sehr traurig, und wahrhaftig hatte er sie so manches mal dafür verflucht, dass sie so war – doch an seiner Liebe zu ihr hatte sich nie etwas geändert. Genauso wenig wie umgekehrt. Mama wird krank vor Sorge sein. Und ich bin Schuld daran. Wenn ich jetzt hier rausgeholt werde und mich die Polizei nach Hause bringt… und Mama sieht mich so… Wie ich jetzt bin… Ohne Beine… Dann wird sie durchdrehen! Sie wird mich anschreien und durchdrehen und zu mir sagen: WARUM HAST DU DAS GEMACHT? WARUM DAVID? WARUM??? JETZT SCHAU DICH MAL AN! Sie würde schreien und weinen, wusste er, und sie würde ihn in den Arm nehmen und halb tot küssen, weil er wieder zurück war. Eine Antwort würde er ihr trotzdem nicht geben können. Es gab keine Antwort. Außer vielleicht – „Weil ich dumm war, Mama. Ich war sooo scheiße dumm! Es fiel ihm gerade schwer, seine Tränen zu unterdrücken. Einerseits wollte er nirgendwo lieber sein als Zuhause, andererseits hatte er selbst davor ein bisschen Angst. Was würden Oma und Opa sagen? Oder konnte Nadja den Anblick ihres Bruders ohne Beine verkraften? Und was ist, wenn ich die Leute aus der Schule wieder treffe? Irgendwo in der Stadt vielleicht. Sie werden alle fragen, was denn mit mir passiert ist und jeder will dann die Geschichte hören.
    ICH WEISS NICHT WAS MIR HIER PASSIERT IST!!! WARUM PASSIERT MIR DAS??? WARUM ICH? Er konnte seine Tränen nicht mehr länger zurückhalten. Sie schwappten einfach über. Nicht nur aufgrund der Erinnerungen und der tristen Vorahnungen, vielmehr weil seine Beine wieder so verflucht juckten und weil er die in Packpapier eingehüllten Stümpfe sah. In Packpapier , dachte er, hätten sie nicht wenigstens Verbände nehmen können? Oder Gips?
    Wie durch ein Leck im Dach tropften seine Tränen auf die staubigen, mit Krümeln und Sand verdreckten Dielen nieder. Immer auf dieselbe Stelle. Und doch war es kein echter Weinkrampf, nur ein ganz kurzer Anfall, der ebenso schnell wieder vorbei war, wie er begonnen hatte. Er fühlte sich so unglaublich müde… und immer wieder schlug er aus, um seine Beine zu kratzen… es war alles sinnlos… Er hätte gar nicht bis zur Tür kriechen brauchen und auch sonst keine Fluchtexperimente wagen.

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