Per Anhalter (German Edition)
wusste er nicht, aber sie waren da… Genau wie seine Mutter… Und all die anderen… die noch immer hinter den Bäumen hockten und über ihn lachten. Nicht mehr so schrill und deutlich wie noch vor einiger Zeit, aber sie waren noch immer da.
Doch er hatte im Augenblick ganz andere Sorgen im Kopf als die da im Wald .
Die Treppe war geschafft. Irgendwie. Alles gelang ihm irgendwie . Wie genau, wusste er selbst nicht, doch er hatte aufgehört, all das zu hinterfragen.
Es spielte ohnehin keine Rolle. Wichtig war nur, dass er dieses Ekelgefühl los wurde, dass er diese Seuche aus seinem Körper hinaus beförderte, ehe sie ihn verschlang wie einen Leckerbissen.
Die Tür war – wie eigentlich zu erwarten – abgeschlossen. NATÜRLICH war die beschissene Tür abgeschlossen und NATÜRLICH konnte er nicht in die Scheißhütte rein kommen. Vollkommen logisch, oder? Warum sollte jemand wie er auch mal Glück haben? Und die Fliegen vermehrten sich bereits in ihm. Und wie! Sie hockten mitten drin in dem Pestilenz artigen Brutkasten der Fäulnis und machten ein richtiges Zuhause für sich und ihren glibbrigen Nachwuchs daraus. David hielt es nicht mehr aus. Ihm rannte hier die Zeit weg. Aus dem Wald hörte er sie alle wieder lachen. Sie lachten sich halb tot über ihn. Er würde es ihnen schon zeigen! Und so verlor er keine weitere Sekunde und riss auf der rechten Seite das Packpapier auf. Überraschung! Darunter befand sich Küchenrolle!
Haufenweise sogar. Gleichsam angewidert wie abgebrüht pflückte er sie heraus.
Stück für Stück. Sie war getränkt mit Blut, vor allem aber mit penetrant stinkendem Eiter.
Als er das letzte Blatt des Küchenpapieres mit seinen zitternden, gefühllosen Fingern zu fassen hatte, ergoss sich eine richtige Fontäne gelb-grüner Soße aus dem Stumpf, gegen die jedes aufgestochene Abszess eine reine Lachnummer war. Es klang so, als würde der kümmerliche Überrest seines Beines kräftig furzen. Der Geruch war beißend sauer und kaum zu ertragen, doch David stand sogar das durch.
„ Puffkind !“ tönte es da plötzlich aus dem Wald. „ Arschgeburt! Hurensohn! Hässlette !“ Das alles waren Beschimpfungen aus der 5. und 6. Klasse. Er selbst hatte so manche anderen Kinder so oder so ähnlich betitelt, und war sich dabei wahnsinnig cool vorgekommen. Irgendwann hörte man dann in der Schule damit auf, sich gegenseitig zu beschimpfen oder dabei zuzusehen, wenn der eine oder andere sich mit diesem und jenem auf dem Schulhof „beulte“. Quasi über Nacht hatte man andere Interessen. „Raucherecke stehen“ zum Beispiel oder sich neidisch die aufgemotzten Roller der Klassenkameraden ansehen. Manche hatten ihre zweirädrigen Schüsseln frisiert, andere konnten einen Discman mit Lautsprecherboxen anschließen und bei wiederum anderen blinkten grüne oder blaue LED-Lichter anstelle von handelsüblichem Licht. Und einige – ganz wenige – hatten sogar alles zusammen. Deren Roller waren dann so cool, dass sie schon fast wieder „voll proll“ waren.
„David ist ein Puffkind, David ist ´ne Arschgeburt!!“ Er hatte keine Ahnung, wer von ihnen diesen kindischen Singsang anstimmte. Er tippte auf Lasse. Aber in jedem Fall machten sie alle mit. Auch seine Mutter und Nadja...
Natürlich war er inzwischen längst aus dem Alter raus, wo man sich durch so etwas ernsthaft auf die Hörner nehmen ließ und sich provoziert fühlte. Doch es war die Tatsache, dass alle mitmachten, sogar seine eigene Familie, die ihn schier wahnsinnig machte.
„Jaaa, witzig seid ihr. Ihr seid echt hammer lustig ihr Vögel.“,
„David ist ein Aaarsch-kind, David hat ne Fotze!! David ist ein Hurensohn!!!“ ,
„Jaa Mann, ein Hurensohn. Und??? Meine Muddä ist ne Hure. Nä, Mama? Du bist ne verfickte Hure, Alter!!“ Sie alle lachten jetzt im Kollektiv darüber, wie er sich aufregte. Ihm flossen jene kindischen Tränen der Wut und der Verzweiflung aus den Augen, wie sie alle Opfer von Hänseleien irgendwann vergossen. Wie gemein, wie widerlich und hinterhältig war es doch, wenn sich eine ganze Gruppe gegen einen verschworen hatte und nur darauf wartete, dass man anfing zu prusten und sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als auf diejenigen loszugehen. Er selbst war nie in dieser Situation gewesen, doch er hatte ebenso wie alle anderen Mitläufer erpicht in die Hände geklatscht, wenn einer der Außenseiter, der gerade damit an der Reihe war im Kreis zu stehen, die Nerven verlor und „abspackte“,
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