Per Anhalter (German Edition)
wie es so schön hieß. Prinzipiell war jeder, der die falschen Klamotten trug oder irgendeine körperliche Einschränkung hatte, sowie diejenigen, die von Natur aus nicht mit besonders gutem Aussehen gesegnet waren, potentielle Opfer und irgendwann einmal an der Reihe. David rangierte immer irgendwo im Mittelfeld. Er war anpassungsfähig und fiel in der naturgegebenen Messlatte weder nach oben noch nach unten hin besonders auf. Er war quasi durch das Raster gerutscht. Es gab keinen sichtbaren Grund, warum er je an die Reihe hätte kommen sollen. Er war weder dick noch blöd noch schlecht gekleidet, noch neigte er dazu, sich irgendwie in den Mittelpunkt zu drängen. Er war immer nur David, und David war schon okay. Und doch hatte er sich so manches Mal voller Mitleid gefragt, wie sich wohl diese armen unglückseligen Kinder fühlen mochten, die nie ohne die Angst, vermöbelt zu werden, in die Schule gehen konnten. Wie viele Tränen mochten sie heimlich in ihr Kopfkissen heulen… Und mit wem sprachen sie über das, was ihnen widerfahren war? Und wie kamen sich die Eltern vor, die ganz sicher auch von sich behaupteten, ein gut geratenes Kind in die Welt gesetzt zu haben, das aber in der Realität bei niemandem gut ankam, sondern dessen Schultasche ständig kaputt war von Tritten und das überall am Körper blaue Flecken hatte und (davon ging er aus) trotzdem nicht darüber reden wollte. Jetzt wusste er, was diese Kinder fühlten.
„Du kannst dich so echt nicht mehr auf der Straße zeigen, Davilein!“ rief ihm seine Mutter zu. „Die werden dich alle behandeln wie eine Missgeburt ohne Beine. Iiiiiiiih, und du hast da FLIEGEN drin. Bääääh! Wie widerlich ist das denn . Guckt mal, der hat Fliegen in den Beinen.“ Er suchte mit seinen Augen verzweifelt nach der Stelle, wo sie standen.
Irgendwo da vorne hinter den Bäumen mussten sie lauern. Irgendwo, wo sie alle ihn sehen konnten, nur er sie nicht. Er nahm sich vor, einfach nicht mehr hinzuhören, sich kämpferisch zu geben und einfach weiterzumachen. Deshalb lachte er einfach mit ihnen mit. Das würde sie schön provozieren und ihn für sie unantastbar machen. Sie hörten zwar trotzdem nicht auf, ihn auszulachen, aber sein eigenes Lachen war wie eine Art Schutzschild gegen ihre Sticheleien und Angriffe. Zwischendurch ertönte im Übrigen immer wieder ein Klong . David war sich jetzt darüber im Klaren, dass hier rein gar nichts von den Bäumen fiel, sondern sie ihn tatsächlich mit Steinen bewarfen. Oder besser gesagt: Lasse bewarf ihn mit Steinen. Lasse hatte einfach Spaß daran, aber er traf ihn nicht. Und selbst wenn, wäre es ihm auch egal gewesen. Und so fand er auf der Terrasse einen kleinen Pinn. Er nahm ihn in die Hand, setzte sich auf die Treppe und atmete tief durch. In diesem Augenblick stand die Welt still. Sie schienen sich alle auf ihn zu konzentrieren, abzuwarten, was er da vorhatte. Nur Lasse katapultierte von Zeit zu Zeit einen Stein. Ein verrostetes Windspiel, das neben der Tür hing, begann zu klimpern und das Holz knarzte unter seinem Gesäß. Eine sanfte Bö bewegte eines der eitrigen Küchentücher bis zum Rand der Veranda. David war hochkonzentriert. Seine Augen hatten eine merkwürdige graue Färbung angenommen und sie zuckten unablässig, besonders das rechte Auge. Weiterhin bildeten sich schaumige Blasen vor seinem Mund. Seine Lippen waren so spröde, dass sie jegliche rote Farbe verloren hatten. Sie waren gekennzeichnet von den Spuren, die seine Zähne in ihnen hinterlassen hatten.
David war dermaßen fern der Realität, dass er nicht einmal zur Kenntnis nahm, dass der Pinn, den er sich genommen hatte, a.) voll mit Erde war, das b.) eine große und eine kleine Kellerassel auf der Unterseite krabbelten und c.) der Pinn an der Oberseite mit weißer Farbe befleckt war. Jemand, der wie er, mit den Folgen einer Blutvergiftung konfrontiert worden war, hätte bei gesundem Verstand nie im Leben mit etwas derart unsterilem in seinem offenen Fleisch herum gestochert. Nur war David nicht bei gesundem Verstand. Genauer gesagt war er kein bisschen bei Verstand. Nicht eine einzige Fliege war in ihn gekrochen. Keine Fliege, kein Käfer, keine Kellerassel – nichts! Das alles gaukelte ihm nur seine hitzegepeinigte Fantasie vor, die, in Kombination mit der unmöglich zu verarbeitenden Menge an Grausamkeiten, die ihm widerfahren war, so viel Gewalt über ihn gewann, dass Realität und Wahnsinn ein und dasselbe waren.
Der „Pinn“ war ein
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