Per Anhalter (German Edition)
war blau angelaufen… Und seine Mutter hatte ihm Ohrfeigen gegeben, wieder und immer wieder, bis sie irgendwann nur noch schreiend durch die Gegend lief und jedem den sie sah zurief: „TUUU DOCH WAAAS! MEIN SOOOHN!“
Irgendwer hatte von irgendwo aus den Krankenwagen gerufen. Und die Sanitäter pumpten und pumpten auf Friedrich herum. Nicht nur die Klasse, in die sie damals gingen, sondern die halbe Schule schien sich in der Friesenallee zu befinden. Manche guckten traurig und betreten, andere alberten sogar jetzt noch herum…
Und ich habe glaube ich nur mit offenem Mund da gestanden, weil ich mich nicht getraut habe mein Fahrrad zu holen, wo doch der Krankenwagen und die vielen Leute davor standen.
Friedrich konnte wiederbelebt werden. Doch er kam nie wieder in die Schule. Einige sagten nach den Sommerferien, dass Friedrich nur noch auf die „Dummenschule“ gehen könne, weil er ne Vollmeise bekommen hätte, seit er den Unfall hatte. Der Lehrer gab nur bekannt, dass Friedrich einen Unfall hatte und es unklar sei, ob er wieder zur Schule käme. Dabei blieb es.
Friedrich kam nie mehr wieder. Er hatte ihn noch zwei, dreimal besucht, nur um Charakterstärke und guten Willen zu zeigen. Und jedes Mal kam er heulend nach Hause. Friedrich war nicht mehr Friedrich, sondern nur noch ein Junge mit einem kaputten Gesicht, der nicht reden konnte, einen nicht erkannte und obendrein sabberte und in Windeln schiss. Friedrichs Mutter verhielt sich eigentlich wie immer. Nett, höflich und lächelnd. Ein echter Sonnenschein. Auch Leber, Reis und Apfelmus schmeckten bei ihr noch immer unübertroffen. Aber in Wahrheit war diese Frau gebrochen und lebte in einer anderen Welt. Ihr Mund sagte: „Du kannst nichts dafür, mein Junge. Es war ein schlimmer Unfall und das Schicksal hat zugeschlagen. Es ist trotzdem schön dass du kommst, wo sich alle anderen von meinem Sohn abgewandt haben.“ Doch ihre Augen sagten etwas anderes. Sie verkündeten erbarmungslos: Du bist so ein Heuchler! Wagst es, mir noch unter die Augen zu treten. Dabei hättest DU den Unfall verhindern können. DU ALLEIN, der du hinter meinem Sohn hergefahren bist. Hättest ihn ja mal warnen können. Und außerdem: wie oft habe ich zu euch gesagt, ihr sollt da nicht so runter rasen? Hundert Mal? Oder tausend? Und außerdem kannst du doch jetzt auch nichts mit ihm anfangen, stimmts? Denkst du etwa, ich merk das nicht? Du kommst nur her um dein schlechtes Gewissen ruhigzustellen. In Wahrheit ekelst du dich doch genau wie alle anderen vor seinen Windeln und seinem Sabber! Und ja! Ja, das tat er. Er ekelte sich vor Friedrich. Und er hatte ein schlechtes Gewissen. Und niemand konnte mit diesem trostlosen Haufen Elend mehr etwas anfangen. Man konnte ihn nicht einmal mehr gern haben, weil dieser Friedrich nicht mehr der Echte Friedrich war. Dieser Friedrich war auf eine kryptische Weise unheimlich. Unvorstellbar zum Beispiel neben ihm zu schlafen, so wie früher… Das einzige was man tat, war in seine Augen zu starren und seine wirren Blicke zu verfolgen, die alles ansahen und nichts registrierten.
Nur mit dem Nachdenken über diese längst ad acta gelegte, angestaubte Geschichte des Grauens, die ihm ein riesiges Stück seiner kindlichen Unbefangenheit geraubt hatte, vergingen wertvolle Minuten. Er brauchte dringend eine Zigarette. Aber noch dringender brauchte dieser Junge Hilfe. Er stopfte sich eine in den Mund und stieg die Stufen hinunter. Manchmal konnte man den Eindruck gewinnen, dass der Regen nur auf einen wartete, denn er war kaum unten, da begann es von Neuem zu schütten.
„He, Junge. Was ist mit dir? Alles in Ordnung?“ Was für bescheuerte Fragen. Natürlich war nicht alles in Ordnung und was los war, war doch ganz offensichtlich: Der arme Knirps lag bewusstlos auf dem Bauch!
„Ach du Scheiße“ stöhnte er, als er erkannte, dass der Junge keine Beine hatte!
Davon hat die Polizei gar nichts gesagt. Haben die nicht eher gemeint, er ist mit dem Fahrrad gefahren… Ist das überhaupt der Junge , oder…
„David? Hallo? Hörst du mich? Scheiße…“ Er packte den Jungen an der Schulter und drehte ihn um. Ihm bot sich ein schauriges Bild. Obwohl nur das angeschaltete Licht der Hütte ein Stück weit die Dunkelheit durchbrach, war das Gesicht des armen Kerls noch so gut zu erkennen, dass sich jede Frage quasi von selbst beantwortete. Dieser junge Bursche war aufs Übelste misshandelt worden. Seine Wangen waren eingefallen und seine Lippen
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