Per Anhalter (German Edition)
unter der Bettdecke.
Die Melodie „Nokia Tune“ spielte und das Summen war der Vibrationsalarm. Und zwar der ihres Handys.
Schlagartig bekam Nadja Angst, denn ihre Mutter hatte den ganzen Abend fast nur geweint und zwar nachdem sie telefoniert hatte.
Es war ihr Chef gewesen soweit Nadja es registriert hatte.
„Dieses widerliche Schwein nennt mich unflexibel und launisch. Ist das zu fassen? Was will er denn? Was will dieser Mann von mir?“
Nadja hatte es nur so halb mitbekommen. Sie saß in der Stube und Mama unterhielt sich in der Küche mit Oma und Opa. Mama regte sich sehr oft über ihren Chef auf, weil er irgendwelche Gehässigkeiten sagte oder sie falsch einplante. Aber ausgerechnet jetzt, wo auch noch das mit David war…
Sie begann sich allmählich ernsthaft Sorgen um sie zu machen, und das schmerzhafte Gefühl, bedingungslos für sie da sein zu müssen, sprengte beinahe ihr kleines Herz. Wie dringend hätte sie mit ihrer Mutter sprechen müssen. Sie hätte Erklärungen gebraucht, ihre warme Hand, die ihr Knie streichelte oder ihren Arm, ganz einfach ihre Nähe.
Doch stattdessen war Mama diejenige, die komplett zusammenbrach und sich überhaupt nicht mehr wie Mama verhielt. Sie war so kalt und abweisend.
Doch es waren die Sorgen. Die Sorgen um David, die Sorgen um die Arbeit, die Angst vor der Zukunft. Eigentlich fühlte sie sich bei Oma und Opa immer wohl, aber zurzeit wollte sie am liebsten einfach nur weglaufen. Irgendwohin. Und nichts mehr von all dem was hier vor sich ging mitkriegen. Sie dachte sogar jetzt, in diesem Augenblick daran, als ihre Mutter das Licht anknipste und in wilder Aufruhr zunächst ihre Hosentaschen und dann ihre Handtasche durchsuchte. Dann fand sie ihr Handy schließlich.
„Ja?“ Sie ging auf und ab. Sie trug ein schwarz-weiß gestreiftes Nachthemd mit einem Teddybären über der Brust, welches eigentlich Oma gehörte. Es war ihr viel zu groß wie Nadja bemerkte. Genauso wie sie jede einzelne Bewegung ihrer Mutter genau bemerkte, studierte und analysierte. Sie rieb sich über dem rechten Auge, zupfte sich in den Haaren, hielt sich die Hand vor den Mund.
„Was?“ sagte sie aufgeregt. „Was, bitte? Hallo? Ja, ich merke dass die Verbindung schlecht ist. Wo sagen Sie ist er ?“ Auf einmal liefen Tränen aus ihren Augen und Nadjas Hals fühlte sich so an, als hätte sie sich eine ganze Hand voll Dobendan Tabletten in den Mund gestopft. Ihr wurde heiß und sie spürte ihr Herz schnell schlagen, während sich aufgeregte Tränen in ihren Augen sammelten.
Das ist nicht Mamas Chef… Das ist irgendwas wegen David.
„Wie bitte?“ Mama keifte fast.
„Ich versteh Sie kaum. Ja. Wieso in Kiel?“ Jetzt war Mama wieder an ihrer Hose und holte dort ihr Päckchen Tabak heraus.
„Ach du liebes bisschen… Ach du liebes bisschen… Ich glaub… Was? Das ist mir völlig egal. Ich weck sofort meinen Vater und dann komme ich…“ Jetzt fängt sie an zu weinen. Und genau so war es auch. Ihre Stimme erstarb in Tränen, und sie verließ das Zimmer.
Nadja setzte sich aufrecht hin. Was war geschehen?
Ich weck sofort meinen Vater und dann komme ich…
„David lebt!“ flüsterte sie zu sich selbst. Und jetzt begann auch sie zu weinen und krabbelte aus dem Bett hinaus in den dunklen Flur.
„Ich sag ganz vielen Dank für den Anruf“ sagte ihre Mutter. „Ja, ist gut, ich mach mich trotzdem auf den Weg. Vielen Dank. Vielen, vielen Dank!“
Nadja stützte sich an der Wand ab, weil sie absolut nichts sehen konnte und sich in der Dunkelheit sehr unwohl fühlte. Außerdem war das alles gerade ein bisschen viel. Konnte das wirklich sein? War David tatsächlich wieder aufgetaucht? War dieser grauenvolle Albtraum endlich zu Ende? Und waren das wirklich Freudentränen die ihre Mutter weinte? War es Überwältigung?
„Papa?“ rief sie und klopfte gegen Oma und Opas Zimmertür. „Papa steh auf, sie haben David gefunden.“ Keine zwei Sekunden später so schien es, riss Opa die Tür auf.
Nadja schlug sich die Hände vors Gesicht. Ein warmes Kribbeln ergoss sich in ihrem Bauch. Sie haben David gefunden. Sie haben ihn gefunden. Mama hat gesagt, sie haben David gefunden. Wie ein Kleinkind hüpfte sie ins Bett, vergrub ihren Kopf ins Kissen, lachte, weinte, sah einen Reigen verschiedenster Bilder in ihrem Kopf. Diese Erleichterung… Unfassbar!
Sie konnte die gigantische Last auf ihren Schultern spüren , jede einzelne der zigtausend Tonnen, wie sie von ihr abfielen.
Wie Wut und
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