Per Anhalter (German Edition)
am frühen Morgen mit den Worten, „Sie haben deinen Freund gefunden. Er ist entführt worden von einer Bande von Wilden“ geweckt hatte, piepte ihr Handy bereits ohne Unterlass. Annika, die von vornherein gegen die Beziehung zwischen David und ihr war, wollte alles besonders genau wissen. Die Streberin war ausgerechnet heute natürlich auch schon früh wach und hatte Notiz von der Nachricht genommen. Dabei wusste Lena doch selbst nichts Genaues, und wollte es auch eigentlich gar nicht!
Sie hatte eine höllische Angst davor, dass ihre Eltern von ihr erwarteten, dass sie jetzt erst recht Kontakt zu David und seiner Familie aufnehmen solle.
Der arme Junge ist durch die Hölle gegangen nur um dich zu sehen. Du hast ihm gegenüber auch eine Verantwortung, das ist dir doch hoffentlich klar, oder?
Nein, gesagt hatten sie es noch nicht, aber wenn sie das von ihr verlangten... Das konnte sie nicht, das war unmöglich! Sie wünschte sich, diesen blöden Idioten nie kennengelernt zu haben. Nichts als Ärger! Erst musste sie ihren Eltern erklären, dass sie ihn beim eigentlich verbotenen Chatten im Internet kennengelernt hatte, dann standen plötzlich die Bullen vor der Tür und als nächstes verlangten ihre Eltern, sie solle sich wie eine Erwachsene benehmen. Das würden sie tun, sie hatte es im Urin und sie sah es speziell ihrem Vater (der ausgerechnet heute natürlich frei hatte) irgendwie an. Sein Blick war herausfordernd und schien sie auf stumme Weise ständig zu fragen: und, was wirst du jetzt tun? Willst du Papa nicht zeigen, dass du ein verantwortungsbewusstes Mädchen bist?
Himmel, sie musste raus hier. Und sie musste das Handy abschalten. Handy aus, weg hier! Nichts mehr hören und nichts mehr sehen. Nachher würden bestimmt auch noch die Bullen wieder kommen und ihr erzählen, dass sie David gefunden hatten, als berichteten sie ihr etwas Neues. Das David keine Beine mehr hatte würden sie erzählen und wie schwer er von diesen komischen Leuten verletzt worden war. Und das nur weil er zu ihr wollte.
Du hast doch bestimmt Sehnsucht nach ihm, oder? Du musst dich doch um ihn gesorgt haben. Komm, wir bringen dich zu ihm. Komm! Komm!
Nein , was für ein Albtraum! Sie fragte sich, ob es ihr lieber gewesen wäre, wenn man ihn tot aufgefunden hätte. Doch dies verneinte sie. Am liebsten hätte sie es ausgesessen, es totgeschwiegen und irgendwann aufgehört, sich über ihn Gedanken zu machen.
Stattdessen hatte sie jetzt den nächsten Schlamassel an den Hacken.
Sie warf sich ihre rosa Strickjacke über, verließ die Wohnung und ging einfach spazieren.
Im strömenden Regen und ohne ihre Eltern darüber in Kenntnis zu setzen, aber das war ihr egal. Sie hatte kein Ziel vor Augen. Sie ging einfach durch den Regen.
Die Luft war piwarm an diesem Freitagvormittag und sie roch würzig nach sommerlich feuchter Erde unter am Vortag noch frisch gemähtem Rasen.
Lena beobachtete eine Katze, die unter einem parkenden Auto saß.
Als das grau-schwarz getigerte Tier sie bemerkte, floh es in die Büsche, als ob sie eine unangenehme, finstere Aura ausstrahlte, oder eben, als ob sie – die Katze – einfach nichts mit ihr zu tun haben wollte.
Dann ging Lena über die Straße und bog in einen schmalen Weg hinter einem Sportvereinshaus ein, von wo aus man einen Blick über die Nordstadt Flensburgs hatte. Unten war der Hafen mit seinen Kränen, der Schornstein der Stadtwerke, die Werft. Alles begraben unter einem dicken grauen Nebel, der ihr fast wie ein Spiegel ihrer Seele vorkam. Sie kramte das Handy aus ihrer Hosentasche und schaltete es wieder ein. In der Zwischenzeit war keine weitere SMS gekommen. Sie schaute auf die Uhr im Display. 9:26 Uhr. Dann schaltete sie es wieder aus, steckte es in die Tasche, legte ihre Hände auf den nassen Jägerzaun und blickte in die Ferne. Normalerweise konnte man viel weiter gucken als heute. Wenn die Tage klar waren. Wenn alles klar war...
Ein Foto, das David ihr einmal über den ICQ-Messenger geschickt hatte, kristallisierte sich in ihrem Kopf. Da war er noch ein glücklicher, ganz normaler und netter Junge , dachte sie und ihr wurde übel. Jetzt liegt er im Krankenhaus und hat keine Beine mehr. Sie fing an zu zittern. Ich will ihn nicht sehen. Eigentlich kenne ich ihn doch auch gar nicht. Und deshalb muss ich auch nicht zu ihm ins Krankenhaus. Und ich will auch seine Mutter nicht sehen. Niemals! Hätte ich bloß nie gechattet, dann wäre all das nicht passiert. Dann
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