Per Anhalter (German Edition)
könnte ich jetzt noch schlafen, ganz normal. Dann wäre alles ganz normal! Ihr Unterleib zog sich krampfend zusammen und eine Gänsehaut in ihrem Nacken, kroch ihren Rücken hinunter.
Im selben Augenblick ertönte das Geräusch von Schritten. Ein matschiges Klackern von Schuhsohlen. Sie wirbelte panisch herum. Doch es war nur eine Frau mit kurzen, grauen Haaren und einem Dackel, den sie spazieren führte. Nur eine Frau. Eine Frau die mit ihrem Hund Gassi geht.
Die Frau trug eine dunkelblaue Regenjacke und Gummistiefel. In ihrer einen Hand hielt sie eine Einkaufstüte.
Nur eine Frau, die mal eben kurz mit dem Hund Gassi geht und einkaufen war.
Doch Lenas Herz hämmerte wie wild. Die Frau machte ein erschrockenes Gesicht, als Lena sich so hastig umdrehte, als hätte sie vor, sie von hinten zu überfallen. Der Dackel der Frau schnupperte an ihren Turnschuhen und Lena rang sich ein Lächeln ab.
„Komm her Micki!“ sagte die Frau ausdruckslos und ging weiter.
Lena fragte sich, was diese Frau, die sie schon eher mal hier im Viertel gesehen hatte, wohl jetzt von ihr dachte. Von ihr, dem jungen Mädchen, das an einem Regentag in den Sommerferien mit dünner Strickjacke bekleidet da stand und lethargisch in die Ferne starrte. Sie denkt bestimmt, ich hab Drogen genommen oder so.
Sie hatte einmal gehört, dass Drogensüchtige total hektisch waren und paranoid werden konnten. Bin ich jetzt etwa auch schon paranoid? Sie hatte natürlich noch nie irgendwelche Drogen genommen, aber woher sollte die Frau das wissen?
Kein normaler, gesunder Mensch stellt sich bei dem Wetter irgendwo draußen hin und guckt dumm durch die Gegend. Das ist krank! Ich bin krank! Kein normaler Mensch trifft sich mit Unbekannten aus einem Chat. Kein normaler Mensch träumt davon, dass der ekelhafteste Junge der ganzen Schule plötzlich kommt um einen zu vergewaltigen. Nur ich träum sowas. Und niemand hätte gleich Panik, weil er Schritte hinter sich hört. Es ist Morgen, ist doch klar dass da Menschen unterwegs sind. Sie fragte sich ernsthaft, ob sie vielleicht anfing, irgendeine dubiose Geisteskrankheit zu entwickeln. Ob sie im Begriff war, wahnsinnig zu werden oder so. Vielleicht war das alles ein bisschen zu viel was gerade passierte. Nein, kein vielleicht. Es war zu viel! Ihr war noch nie zuvor so unwohl zumute, wie bei der Vorstellung, Verantwortung zu übernehmen und heuchelnd vor Davids Bett zu stehen. Hi mein süßer Schatz , hörte sie sich in ihrem Kopf zu ihm sagen. Und David, zerschunden und verstümmelt lag er da, öffnete beim Klang ihrer Stimme die Augen und sagte, Ich habe das alles nur für dich getan, Prinzessin. Nur für dich! Er spitzte seine spröden Lippen zu einem Kussmund, aus dem ein fauliger Gestank drang und hob den Kopf an. Seine Mutter war aufrichtig ergriffen und schluchzte. Nun habt ihr doch noch zueinander gefunden. Wie schön. Wie wunderschön!
Aber Lena konnte nicht. Und sie wollte nicht, verdammt nochmal. Menschen ohne Gliedmaßen weckten ein unergründlich tief sitzenden Abscheu in ihr, ekelten sie an. Mama wusste es ganz genau. Sie hatte darüber einmal ganz offen mit ihr gesprochen, als ein Vertretungslehrer, dem beide Arme fehlten und der die Kreide mit seinen nackten Füßen festhielt, sie unterrichtete. Ihr wurde ehrlich schlecht bei dem Anblick, und das meinte sie nicht einmal böse. Und Papa müsste es auch wissen. Warum ließen sie sie so ins offene Messer laufen? Warum ließen sie das zu? Warum taten sie ihr das an?
Es war unvorstellbar für sie, mit einem körperlich so stark beeinträchtigten Jungen zusammen zu sein. Theoretisch war sie ja sogar mit ihm zusammen, oder? Er zumindest wusste ja nichts von den Mails, die sie ihm in ihrer Wut geschickt hatte. Wenn er nun aufwachte und feststellte, dass er wieder in Sicherheit war...
Dann fragt er nach mir... Und ich kann es ihm doch nach allem was passiert ist nicht antun, mich von ihm zu trennen.
Nein, das konnte sie wahrhaftig nicht.
Aber genauso wenig konnte sie mit ihm zusammen sein.
Hut ab vor den körperlich unversehrten Menschen, die mit einem oder einer Behinderten zusammen waren. Sie würde das nicht können, bei aller Liebe und Gutherzigkeit die in ihr steckte. Das konnte sie einfach nicht!
Nein, sie diskriminierte keine behinderten Menschen, aber sie hatte auch noch keinen richtig gekannt der behindert war.
Sie steckte in einer tiefen moralischen Zwickmühle.
Mitgefühl, Trauer, Ekel und Angst wechselten einander ab. Es schien keinen
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