Per Anhalter (German Edition)
Erkenntnis, dass sie schwer krank, um nicht zu sagen totgeweiht war. Jegliches Leben, alle Energie schien aus ihrem indisponierten Körper verschwunden zu sein. Diese Frau hat Krebs im Endstadium , konnte man denken. Diese Frau hat nicht mehr lange zu leben. Ihr war kalt… Sehr kalt. Und trotzdem blieb sie stehen. Sie drückte eine Zigarette im Aschenbecher aus (hin und wieder warf sie sie auch einfach nur in die Matschpfütze gegenüber), nur um sich direkt die nächste anzuzünden.
Weil ihr die Zigaretten ausgegangen waren, hatte sie sich am Automaten eine Packung Marlboro gezogen. Für teures Geld. Stopfen war viel günstiger. Aber das interessierte sie im Augenblick wirklich nicht! Ihr Kopf war viel zu leer für solch triviale Gedanken.
Sie musste noch beim Chef anrufen. Die nächste Woche würde sie nicht arbeiten können. Und die Woche darauf auch nicht. Höchstwahrscheinlich konnte sie nie wieder arbeiten. Erstaunlicher Weise war es ihr Vater, der ihr in dieser Hinsicht eine gewaltige Last abnahm, indem er ihr sagte, sie solle sich keinen Kopf machen. Selbst wenn der Chef sie kündigte, wäre das kein Problem. Er würde sie finanziell unterstützen, da war nichts im Wege.
Das war zwar kein traumhaftes Szenario, aber im Augenblick das einzig Richtige.
Ihre Eltern verfügten zwar über keine Reichtümer, jedoch über genügend Geld, um vernünftig über die Runden zu kommen. Ihnen tat es nicht weh. Und trotzdem kratzte es gewöhnlich sehr an ihrem Stolz. Aber auf den schiss sie im Augenblick genauso, wie auf den hohen Preis für „richtige“ Zigaretten. Sie hatte jetzt einen Sohn der schwerbehindert war. Das war es, worum sie sich Gedanken machen musste. Um nichts anderes als das. Aber sie konnte im Moment nicht einmal daran denken. Sie konnte gar nichts tun - außer rauchen. Ihr Vater kam mit zwei dampfenden Pappbechern Kaffee an. Er hatte die Jacke zum Schutz vor dem Regen über seinen Kopf gezogen. Sein Gesicht war aschfahl von der Hölle namens „Nacht“, dessen Talsohle er mit ihr gemeinsam durchschritten hatte.
„Pass auf, der ist heiß!“ sagte er und reichte ihr den Pappbecher. Sie nahm ihn dankbar lächelnd entgegen. Ihre Hände zitterten so stark, dass die schwarze Plörre aus der Öffnung heraus tropfte.
„Ich hab noch keine Milch rein gemacht“ sagte er und stellte seinen Becher auf eine der Bänke und setzte sich hin. Er hatte sich mehrere Plastikkapseln Kaffeesahne eingesteckt, öffnete eine davon mit seinem Daumennagel und ließ eine geringe Menge in seinen Kaffee tropfen. Es war gerade so viel, dass die Oberfläche des dampfenden Heißgetränks ein weißes Auge davon bekam. Verschwindend gering. Vermutlich war es eher eine Art Placebo-Effekt, den er mit dem sprichwörtlichen „Schuss Sahne“ erzielte.
Sie setzte sich zu ihm auf die Bank und wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht, die ihre Augen bedeckte. Dann nahm sie sich zwei Sahnekapseln, riss sie auf und ließ sie in ihren Kaffee ein.
Ihr Vater schob ihr ein weißes Plastikstäbchen herüber, das zum Umrühren diente.
Auch für sich selbst hatte er ein solches Stäbchen mitgenommen und er fing an, ewig lang seinen Kaffee damit umzurühren.
Mareike versuchte, den Deckel, der mit zahlreichen Warnungen wie „CAUTION! HOT!“ oder „VORISCHT! HEISS!“ beschrieben war, wieder auf den Becher zu stülpen, aber durch das starke Zittern ihrer Hände war dieser Versuch nicht von Erfolg gekrönt.
Ihr Vater versuchte es erst gar nicht.
Und so standen zwei Coffee-to-go-Becher ohne Deckel auf der Bank.
Ohne zu fragen griff ihr Vater nach der inzwischen fast bis zur Hälfte geleerten Packung Marlboro auf dem Tisch und zündete sich eine davon an. Sie tat es ihm gleich.
Ihr Rachen brannte bereits Übelkeit erregend von all den Zigaretten. Hin und wieder erreichte sie ein kurzer aber intensiver Anflug von Hunger, der jedoch beim leisesten Gedanken an David wieder fortgespült wurde, wie das Wasser der Regenbäche vor dem Unterstand, das irgendwo im Nichts versickerte.
„Mareike“ sagte ihr Vater leise und stieß den Rauch durch seine Nasenlöcher aus. Dann blickte er nachdenklich zu Boden, nickte und schaute seiner Tochter ins Gesicht.
„Er ist wieder da.“ Eine kurze Pause. „Das ist alles was im Augenblick zählt. Die Ärzte sagen, dass er durchkommen wird.“ Mareikes Gesicht verkrampfte sich und aus beiden Augen schossen zeitgleich die Tränen heraus. Sie machte eine so ungeschickte Handbewegung, dass sie mit
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