Per Anhalter (German Edition)
Ausweg zu geben. Keinen, mit dem sie ohne weiteres leben konnte.
Wenn sie die Sache mit David nur zur Kenntnis nehmen brauchte und nichts weiter zu tun... Aber so lief das nicht. So konnte es nicht laufen. Sollte sie ihre Mutter bitten, falls von Seiten der Familie Gimm, respektive von David selbst, der Wunsch geäußert wurde, dass sie ihn besuchte, die Beziehung für sie zu beenden? Auf diplomatischem Wege? Wir sind von vornherein gegen diese Beziehung gewesen, wissen Sie, Frau Gimm. Das, was Ihrem Sohn wiederfahren ist, bedauern wir zutiefst, auch im Namen unserer Tochter. So weit hätte es nie kommen dürfen. Was für eine furchtbare Sache. Aber unsere Tochter soll...
Ja, das hörte sich gut an: sie soll sich ganz auf die Schule konzentrieren.
Mh-hm, ja, das klang einleuchtend. Erwachsen. Klug. Und mit ihrer Mutter würde sie darüber reden können. Mit ihrem Vater eher weniger. Der würde ihr den Vogel zeigen, wenn sie ihm mit der Idee kam.
Aber Mama tickt ja fast wie ich. Sie hält das bestimmt für eine gute Idee mit der Schule.
Und sie sagt ja auch immer, mal eine kleine Notlüge ist halb so wild. Außerdem muss sie das ja nur sagen, wenn die Familie von David oder David selbst sich meldet.
Sie nahm sich vor, sich gänzlich aus dem Internet zurück zu ziehen. Sogar ihr Emailkonto wollte sie löschen. Dann brauchte sie nur noch eine andere Handynummer und...
Aber er hat meine Adresse. Was, wenn er eines Tages auftaucht? Ohne Beine... Wütend auf mich, weil ich mich nie mehr gemeldet habe.
Wie gesagt, sie steckte in der Zwickmühle. Es gab keinen Ausweg aus der Nummer. Zumindest keinen, der auch nur ansatzweise unproblematisch war. Wie einfach und befreiend erschien die Möglichkeit, sich das Leben zu nehmen. Einfach einen Strick um einen Baum knoten und das andere Ende um den Hals legen. Fertig war man damit! Keine große Sache. Aber sie hatte weder einen Strick zur Hand noch hatte sie den nötigen Mut dafür.
Und außerdem lebte sie doch eigentlich gerne. Eigentlich! Wenn nur das Wörtchen eigentlich nicht wäre.
Im Augenblick lebte sie ganz und gar nicht gerne. Im Augenblick war sie ein verstörtes Mädchen das völlig apathisch herum lief. Den Kopf voll quälender Gedanken und gefangen in tiefer, grauer Aussichtslosigkeit… als einziges junges Mädchen auf der Welt…
Aber da irrte sie sich! Sie war nicht das einzige junge Mädchen auf der Welt, das wankend am Rande der Verzweiflung stand und das Leben in Frage stellte. Denken wir an Sonja, das geistig behinderte Mädchen, das allein in einem einsamen schwedischen Wald zurückgelassen wurde... Das zitternd vor Angst und Kälte, nass bis auf die Knochen, nach ihrer Mama und ihrem Papa rief. Vor Schmerzen vornüber gebeugt gerade einmal bis zum Auto zurückfand. Die zudem an Entzugserscheinungen litt, weil sie ihre Medizin, wie ihre Mutter das Diazepam nannte, nicht mehr bekam. Oder an Nadja, die kurz nach dem Aufstehen von ihrer weinenden und nach Alkohol riechenden Oma von dem erfahren hatte, was aus ihrem Bruder geworden war. Die eben erst wieder in die sorglose Kinderwelt zurückgelehrt war, und diese erneut einbüßen musste. Die an ihrer an die Flurwand lehnende, kreidebleiche Oma vorbei in die Küche schlurfte, sich, noch benebelt vom glückseligen Schlaf, aus dem Küchenschrank eine Schüssel für ihre Corn Flakes heraus holte und dann, als sie sie auf den Tisch stellen wollte, ohnmächtig zusammen brach, weil ihre eben erst wieder zusammen geflickte Welt gänzlich und unwiderruflich in Scherben lag...
***
Der Regen prasselte unaufhörlich auf die Erde hernieder. Es war mehr Wasser, als selbst die ausgedörrte Vegetation mit einem Schlag aufsaugen konnte. Zudem wehte ein herbstlich anmutender rauer Wind an diesem Tag.
Mareike Gimm hatte keine Tränen mehr übrig. Die hatte sie im Laufe der Nacht verweint.
Sie stand unter einem überdachten Unterstand mit rostigen, überfüllten Aschenbechern, die von vielen Leuten zusätzlich zur Entsorgung ihrer Kakaotrinkflasche oder ihres Dönerpapiers genutzt wurden, im Klinikpark und starrte apathisch auf die matschigen Rinnsale, die der unaufhörliche Regen vorantrieb.
Ihre Haare hingen glanzlos und fettig herunter, die Augen waren dick verquollen und ganz rot von den vielen Tränen. Auf ihrer Stirn wucherten Pickel und ihr Gesicht war gesprenkelt mit roten Stresspusteln. Wenn man sich die hohlwangige, borniert da stehende Gestalt anschaute, kam man zwangsläufig zu der
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