Per Anhalter (German Edition)
dem Handrücken den Kaffeebecher umstürzte. Der Inhalt ergoss sich auf den mit Kieselsteinen ausgelegten Boden. Sie gluckste, wimmerte und heulte. Da legte ihr Vater seine Hand auf ihre, die gerade im Begriff war, den leeren Pappbecher wieder hinzustellen.
„Wir schaffen das“ sprach er weise. „Meine Güte, es ist alles schrecklich. Und es ist nicht in Worte zu fassen. Aber wir kriegen das hin ! Okay? Wir kriegen das gemeinsam hin. Wir sind eine Familie, Schatz. Und Mama und ich stehen immer hinter dir.“,
„Warum er , Papa? Warum mein Sohn ?“ Darauf wusste der alte Mann auch keine Antwort. Er atmete laut ein, legte seine Hand auf ihren Hinterkopf und zog sie an sich heran, so dass ihr Kopf auf seiner Brust lag. Und sie weinte. Und der alte Mann hatte Tränen in den Augen. Sein Blick war in Richtung Dach gerichtet.
Wellblech. An einigen Stellen tröpfelte der Regen hindurch. Sein Hemd wurde auf Höhe der Brust feucht. Die Tränen seiner Tochter. Die Tränen seiner erwachsenen Tochter, die das Talent hatte, jedes Mal, bei allem was sie tat, einen Griff ins Klo zu landen. Seine Tochter, auf die er dennoch so stolz war, wie ein Vater nur stolz sein konnte. Auch wenn er nicht immer fähig war, dies zu zeigen. Gott, wie er sie liebte. Und wie weh ihm das alles tat. Sein Kopf sackte herab, vergrub sich in ihrem Haar. Er küsste sie. Spürte sie. Und er spürte – mehr denn je – dass sie ihn brauchte. Und er würde für sie da sein. Immer!
***
Da war sie wieder, die „gute alte Zeit“, hervorgeholt unter all dem Schutt in ihrem Kopf.
Bennecke stopfte sich ihren linken Daumen in den Mund. Ihre maroden aber spitzen Zähne schälten den Nagel ab, der jetzt auf ihrer Zunge lag. Sie schob ihn von einer Ecke des Mundes in die andere, kaute darauf herum und er zersprang. Winzige Brocken kitzelten in ihrem Rachen, vereinten sich mit Speichel und sie spuckte aus.
Sie war wütend auf diese Schlampe von Polizistin.
Sie wollte nicht mehr an diese Zeit denken... Nie wieder wollte sie es zulassen, dass Klaus in ihrem Kopf einen Platz hatte. Klaus, das war der Mann an der Seite ihrer Oma. Klaus, das war der Mann, den sie „Opa“ nennen musste.
Dirne – das Wort manifestierte sich in ihren Gedanken. Sie wand sich auf der Pritsche, stopfte sich den dünnen Stoff der Decke in den Mund und biss hinein. Sie wollte nicht daran denken…
Dirne! Dirne!
… aber es ließ sich nicht abstellen!
Dunkelheit… Ihre Zimmertür ging auf. Sie hatte das kleine Zimmer am Ende des Flures, gleich neben der Kellertür. Das Zimmer war einmal das Büro von ihrem richtigen Opa gewesen, der aber schon lange tot war. Manchmal erzählte ihre Oma von ihm… Oder von Mama. Von Papa nicht, denn sie mochte ihn nicht. Sie sagte immer, dass Papa ein schlimmer Säufer war, der Mama „kaputt gemacht“ hätte. Manchmal guckten sie Fotos. Schwarzweißbilder von Opa, als er noch ein Soldat war… Bilder von Mama, als sie noch ein Baby war und in einer Schüssel voll Wasser saß. Bilder, auf denen Oma und Opa jung waren und Mama im Arm hatten. Bilder von der Hochzeit von Oma und Opa. Manchmal war sie traurig, dass Mama nicht mehr da war. Oma pflegte zu sagen, dass sie jetzt im Himmel sei und von dort hinunter schaute und auf sie aufpasste…
Das war lange her, sehr lange!
Es tat immer gut sich das mit dem Himmel vorzustellen, wirklich.
Es tat außerdem immer gut zu spüren, das Oma da war. Und besonders gut war es, wenn Oma mit bei ihr im Bett schlief oder sie in Omas Bett mit schlafen durfte.
Klaus…
Klaus war eigentlich der Nachbar…
… Klaus kam jetzt immer öfter abends vorbei und Oma schlief immer seltener mit bei ihr im Bett oder sie mit bei ihr. Sie guckten auch immer seltener zusammen Bilder…
Kling – Sie HASSTE dieses Geräusch, denn wenn es Kling machte stießen Oma und Klaus miteinander an. Wenn es klack machte, war es das Feuerzeug… Der Rauchgeruch zog manchmal bis in ihr Zimmer. Klaus rauchte Zigarren. Oma rauchte Zigaretten.
Klaus hatte eine tiefe brummige Stimme.
Kling – klack – Gebrummel. Manchmal lachte Oma.
Es gefiel ihr nicht, dass Klaus jetzt da war.
Und es gefiel ihr noch weniger, das Klaus jetzt auch manchmal am Tag da war.
Und es gefiel ihr ganz und gar nicht , wenn Klaus Oma küsste… Und wenn Klaus mit Oma zum Beispiel draußen auf dem Balkon saß und es kling machte. Klaus trank etwas Braunes und Oma Apfelkorn. Oma trank immer schon Apfelkorn. Oma roch auch immer
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