Per Anhalter (German Edition)
Wochen für dich gemacht und getan. Jeden Tag sind wir da raus gekommen. Wir haben für dich telefoniert, organisiert, geregelt, gemacht und getan. Und eines, mein Lieber...“ Ihr kamen wieder die Tränen, „Lass deinen Opa manchmal sein wie er will, er hat alles, aber auch wirklich alles gemacht um uns, ganz speziell mir, das Leben leichter zu machen. Ohne ihn hätte ich die letzten Monate wahrscheinlich nie überstanden. Da würde ich dir Brief und Siegel drauf geben. Ich erwarte nur ein kleines bisschen Respekt. Mehr erwarte ich gar nicht. Du hast dich nicht ein einziges Mal bei ihm dafür bedankt.“ Er verstand gerade nicht richtig, was sie jetzt überhaupt von ihm wollte.
„Ich finde dass du da wenigstens mal anrufst, kann nicht zu viel verlangt sein. Weißt du was uns die letzte Zeit an Nerven gekostet hat? Kannst du dir das auch nur vage vorstellen?“ Er schlug den Blick zu Boden.
„Du solltest dich normalerweise was schämen. Normalerweise solltest du dich wirklich in Grund und Boden dafür schämen.“ Jetzt schaute er seiner Mutter wieder ins Gesicht. Tränen brannten in seinen Augen. Doch seine Mutter war noch nicht fertig mit ihm:
„Du hast in diesem Jahr gar nichts geleistet. Überhaupt gar nichts ! Und so ganz allmählich bist du mal am Zug! Dass hier ist nur die Spitze des Eisberges. Hier zu Hause hast du dich aufgeführt wie der letzte Henker, deine Ausbildung hast du sausen lassen, dein Schulabschluss ist... eine Lachnummer gewesen. Wo ich mich heute noch frag, wie kann so etwas angehen? Mit diesem Abschluss eine Ausbildung in der Tasche alles einfach so wegzuwerfen wie nen Haufen Müll. Und wo wir gerade bei Müll sind, schau dich hier mal um. Und dann das mit dieser Fotze aus dem Internet. Es ist...“,
„Wieso ist sie jetzt ne Fotze?“,
„Wieso interessiert das jetzt?“,
„Weil es so ist! Lena hat damit doch nix zu tun.“,
„LENA IST DER GRUND DAFÜR DASS DU JETZT DA IN DIESEM BÄ-SCHISSENEN ROLLSTUHL SITZT!!! Kapierst du das nicht ?“
„Ja, klar. Jetzt ist sie auf einmal ne Fotze“ – dieses Wort hatte David noch nie aus dem Mund seiner Mutter gehört.
„Sonst hast du immer gesagt, sie ist sooo ne nette. Halt sie doch einfach da raus!“,
„Mein lieber Freund, hat sich dieses Mädchen seither auch nur ein einziges Mal bei dir gemeldet?“,
„Ach Mudder lass einfach, okay? Das ist doch jetzt echt Schwachsinn!“,
„Ja, schön wenn du das so siehst. Alles Schwachsinn, ich weiß!“,
„Ja, Mann, aber ist doch so: Sie kann doch nix dafür. Wenn du jetzt sagst, ich bin ein Vollidiot ist es okay. Ich hab mich doch entschieden da hinzufahren. Sie hat mich nicht angebettelt das zu machen oder so.“,
„Wenn dieses Mädchen nicht gewesen wäre…“,
„IST sie aber! Und ich weiß dass es Scheiße von mir war!“,
„Weißt du was David? Dieser Ton geht mir dermaßen gegen den Strich. Vergiss es einfach. Lass gut sein! Meinetwegen mach wie du meinst, halt mich für blöd oder für scheiße oder was auch immer…“,
„Hä, ich hab doch nur!“;
„NEIN DAVID! Jetzt rede ich! Gewöhn dir mal einen anderen Ton an und denk nach bevor du los schreist. Mir ist das hier einfach zu blöd! Kümmer dich meinetwegen um den beknackten Computer und lass mich einfach in Ruhe!“,
„Alter ich…“
Doch da war sie schon aus dem Zimmer. Die Tür krachte mit solcher Wucht ins Schloss, dass der Schlüssel auf dem Fußboden landete.
Sie stapfte mit dumpfen Schritten durch den Flur.
David schluckte und betrachtete das große „Herr der Ringe“-Poster an seiner Zimmertür.
Eine graue Strickjacke mit weißen Streifen sowie sein alter Schulsportrucksack hingen darüber und verdeckten einen Teil davon.
Mit einem entnervten Stöhnen sackte er zusammen.
So hatte er sich seine Rückkehr nach Hause nicht vorgestellt.
Das fing wirklich schon wieder gut an.
Wenigstens fand er jetzt Bestätigung für die These, dass seine Mutter das erste Trauerstadium durchschritten hatte, und das Stadium „Wut“ erreicht hatte.
In der neunten Klasse hatten sie in der Schule eine Projektwoche zum Thema Tod gehabt, in dessen Rahmen sie sie ein Hospiz besuchten. Die Leiterin der Einrichtung hatte die vier Stadien der Trauer erklärt.
Nein, er war natürlich nicht tot, und doch war der Einschnitt ins Leben von solcher Tiefe, dass es dem sehr nahe kam.
Ein Stück von ihm war außerdem sehr wohl gestorben, daran gab es nichts zu leugnen.
Der Verlust seiner Beine konnte freilich als
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