Per Anhalter (German Edition)
Welt in seinem Inneren. Der Arzt meinte, es könnte eine Nebenwirkung der starken Schmerzmedikamente sein, aber die waren inzwischen auf eine so geringe Dosis herabgesetzt worden, dass die unmöglich allein schuld daran sein konnten.
Plötzlich setzte das grauenhafte Phantomjucken wieder ein. Er wusste nicht was schlimmer war, das Jucken oder der Schmerz, der eigentlich nicht da sein konnte. Wahrscheinlich war beides gleichermaßen schlimm. Dies war auch eine Sache mit der er lernen musste zu leben. Eine gerechte Strafe… Eine ausgesprochen Harte obendrein.
Der Preis hätte genauso gut dein Leben sein können. Du hast, in Anführungszeichen, nur deine Beine verloren. Also stell dich nicht so an!
Nahezu all seine Gedanken waren im Tonfall seiner Mutter gesprochen. Das war seit der Zeit in der Hütte geblieben. Das, die abgetrennten Beine sowie zahlreiche Narben.
Von Albträumen, Panikattacken, plötzlichen Heulkrämpfen und zum Teil nicht mehr messbaren Schmerzen mal ganz zu schweigen…
Er biss sich auf den Finger und verdrehte die Augen. Dann schlug er immer wieder gegen seinen Kopf. Die verzweifelte Hoffnung, diesen gottverdammten Phantomschmerz damit zu bekämpfen, war der einzige Grund. Und es half! Ein bisschen zumindest. Jetzt tat es das in jedem Fall.
Und er war noch immer bei der quälenden Frage, was zum Henker er hier tun sollte, in dem Gefängnis seiner eigenen vier Wände.
Sein Blick fiel wieder auf den Computer.
Und weil seine Fantasie ohnehin gerade auf Hochtouren lief, stellte er sich die (ungeheuer triste) Situation vor, wie er ihn anschaltete (jetzt mit den Fingern anstatt, wie sonst üblich, ganz lässig mit dem großen Zeh) und erstmal genüsslich im Internet surfte, während seine Mutter nebenan die Einkäufe wegräumte. Früher hätte er sich darüber nicht eine Sekunde lang Gedanken gemacht. Wozu auch? Es ging ja auch so viel einfacher. Die bloße Vorstellung sich jetzt an dieses Ding da zu setzen, und sei es nur, um eine Runde Solitär zu spielen oder kurz die E-Mails zu checken… Undenkbar! Er wollte gar nicht wissen, was Lena ihm vielleicht geschrieben hatte. Wer weiß, vielleicht hatte sie sich sogar über ihn lustig gemacht. Vielleicht war sie von Anfang an nur eine billige Fake-Nutte, die ihn eigentlich überhaupt nicht wollte und die ihm, wenn er wirklich bei ihr angekommen wäre, den Vogel gezeigt und „VERAAAARSCHT“ gerufen hätte.
Seinetwegen konnte irgendwer dieses Scheißding nehmen, es abfackeln oder zu Klump hauen. Scheißegal! So abstrus es auch klingen mag, aber der Computer bereitete ihm eine Mordsangst.
Selbstverständlich war diese Angst schlicht und einfach irrational, aber es gab so viele Dinge in letzter Zeit, die vollkommen irrational und vollkommen anders waren, als er sie in Erinnerung hatte.
Angst war ein zentrales Thema. Sie bestimmte inzwischen sein ganzes Leben.
Nicht einmal nur die plötzlichen Panikattacken, sondern eben auch so banale Sachen wie ein sonst so heiß und innig geliebter, einsamer Vormittag vor dem PC. Oder Eistee zum Beispiel; er sah die Verpackung und er fand es ganz grauenhaft wenn er sich vorstellte, wie er aus der Packung trank. Und dann wieder in die Tasten haute. Und noch einen Schluck trank. Er bekam sogar richtige Kopfschmerzen von der Vorstellung.
David Gimm war nicht mehr derselbe. Was er, abgesehen von einem verstörten Krüppel, überhaupt war, vermochte er selbst nicht zu sagen.
Er ließ den Blick vom Computer hinüber auf das Bett schweifen.
Und sofort ergriff ihn die nächste, höchst sonderbare Woge beklemmender Angst.
Er hatte jahrelang in genau diesem Bett geschlafen. Aber wie um alles in der Welt sollte er von jetzt an je wieder darin schlafen können. Es war das Bett indem er das letzte Mal im Hochsommer aufgewacht war, als die Sonne noch ganz heiß schien… Das Bett, in dem er die Idee fasste zu Lena nach Flensburg zu fahren… Mit dem Fahrrad… und weiter per Anhalter. Er konnte doch unmöglich jemals wieder in diesem Bett schlafen, weil er immer und immer und immer daran denken würde.
Er schlug mit der Hand aus… Und wieder war es nur ein Irrtum – das unerträgliche Kribbeln in seinem Bein war schlicht und einfach nicht echt. Und dennoch war es da!!!
Er war sich sicher, dass er eines Tages durchdrehen würde, wenn das hier kein Ende nahm.
Seine Mutter betrat das Zimmer. Sie legte die dunkelblaue Kulturtasche aufs Bett, die sie ihm für den Krankenhausaufenthalt besorgt hatte. Er schaute
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