Percy Jackson Bd. 5 Die letzte Göttin
schloss die Hand wie um ein Messer und mimte einen Stich. »Ich bin nicht sicher, Majestät. Das ist alles so schnell gegangen. Ich habe auf keine besondere Stelle gezielt.«
Kronos’ Finger trommelten auf die Klinge seiner Sense. »Aha«,
sagte er eiskalt. »Wenn dein Gedächtnis sich bessert, erwarte
ich …«
Plötzlich zuckte der Titanenherrscher zusammen. Der Riese in
der Ecke löste sich aus seiner Erstarrung und das Stück Pommes fiel ihm in den Mund. Kronos taumelte rückwärts und ließ sich
wieder auf seinen Thron sinken.
»Majestät?« Ethan sprang vor.
»Ich …« Die Stimme war schwach, aber für einen kleinen Mo-
ment war es die von Luke. Dann verhärtete sich Kronos’ Miene. Er hob die Hand und bewegte langsam die Finger, wie um sie zum Ge-horsam zu zwingen.
»Schon gut«, sagte er und seine Stimme klang wieder stählern
und kalt. »Ein kleines Unwohlsein.«
Ethan feuchtete sich die Lippen an. »Er wehrt sich noch immer, stimmt’s? Luke …«
»Unsinn«, fauchte Kronos. »Wiederhole diese Lüge, und ich
schneide dir die Zunge heraus. Die Seele dieses Jungen ist zerschmettert worden. Ich passe mich nur den Grenzen seiner Gestalt an. Dazu ist Ruhe vonnöten. Das ist ärgerlich, aber nur eine
vorübergehende Unannehmlichkeit.«
»Wie … wie ihr meint, Majestät.«
»Du!« Kronos zeigte mit seiner Sense auf eine Dracaena mit grüner Rüstung und grüner Krone. »Königin Sess, nicht wahr?«
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»Ssssehr wohl, Majesssstät.«
»Kann deine kleine Überraschung jetzt losgelassen werden?«
Die Dracaena- Königin bleckte ihre Fangzähne. »Sssehr wohl, Majessstät. Eine überaussss reizende Überraschung.«
»Hervorragend«, sagte Kronos. »Sag meinem Bruder Hyperion,
er soll unsere Hauptmacht nach Süden in den Central Park verlegen. Die Halbblute werden dermaßen durcheinander sein, dass sie sich nicht verteidigen können. Geh jetzt, Ethan. Arbeite an der Verbesserung deines Gedächtnisses. Wir reden weiter, wenn wir
Manhattan eingenommen haben.«
Ethan verneigte sich und meine Träume wechselten ein letztes
Mal den Schauplatz. Ich sah das Hauptgebäude im Camp, aber es
war eine andere Zeit. Das Haus war rot gestrichen, nicht blau. Die Camper auf dem Volleyballplatz hatten Frisuren wie in den frühen neunziger Jahren, was sicher gut war, um Monster abzuschrecken.
Chiron stand neben der Veranda und sprach mit Hermes und
einer Frau, die ein Baby auf dem Arm hatte. Chirons Haare waren kürzer und dunkler. Hermes trug wie immer seinen Trainingsanzug und die geflügelten Turnschuhe. Die Frau war groß und hüb-
sch. Sie hatte blonde Haare, leuchtende Augen und ein freund-
liches Lächeln. Das Baby auf ihren Armen zappelte in seiner blauen Decke, als ob Camp Half-Blood der letzte Ort auf der Welt wäre, wo es sein wollte.
»Es ist eine Ehre, dich hier zu haben«, sagte Chiron zu der Frau, klang dabei aber nervös. »Hier ist schon lange keine Sterbliche mehr zugelassen worden.«
»Ermutige sie doch nicht auch noch«, knurrte Hermes. »May,
das kannst du nicht machen!«
Mit einem Schock ging mir auf, dass ich May Castellan vor mir
hatte. Sie sah überhaupt nicht aus wie die alte Frau, die mir
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begegnet war. Sie wirkte so lebhaft – wie ein Mensch, der lächeln konnte und in dessen Gegenwart sich alle wohlfühlten.
»Ach, mach dir doch nicht solche Sorgen«, sagte May und wiegte das Baby. »Ihr braucht doch ein Orakel, oder? Wie lange ist das alte schon tot? Zwanzig Jahre?«
»Länger«, sagte Chiron düster.
Hermes hob verzweifelt die Hände. »Ich hab dir die Geschichte
nicht erzählt, damit du dich bewirbst . Das ist gefährlich, Chiron, sag ihr das!«
»Stimmt«, sagte Chiron warnend. »Ich habe viele Jahre lang al-
len verboten, es zu versuchen. Wir wissen nicht genau, was passiert ist. Die Menschheit scheint die Fähigkeit verloren zu haben, das Orakel zu beherbergen.«
»Wir haben das alles schon besprochen«, sagte May. »Und ich
weiß, dass ich es kann. Hermes, das ist meine Gelegenheit, etwas Gutes zu tun. Und mir ist diese Seherinnengabe nicht ohne Grund gegeben worden.«
Ich wollte May Castellan anschreien, dass sie es lassen sollte. Ich wusste, was passieren würde. Nun begriff ich endlich, was ihr
Leben zerstört hatte. Aber ich konnte mich nicht bewegen und
nicht sprechen.
Hermes sah eher verletzt aus als besorgt. »Aber du kannst nicht heiraten, wenn du das Orakel wirst«, klagte er. »Du darfst mich dann nicht mehr treffen.«
May
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