Perdido - Das Amulett des Kartenmachers
die Rinde näher betrachtete, klappten mitten im Stamm zwei hellblaue Augen auf. Sie waren kreisrund und die großen Pupillen musterten den Ankömmling neugierig.
Starr vor Schreck erwiderte Hugo den Blick, bis ihn der Baum zu seinem maßlosen Erstaunen ansprach: »Was hast du in diesem Wald zu suchen?«, zischelte der Baum. »Wer hier eindringt, muss sterben!«
»Ich … Ich … Ich wollte nichts Verbotenes tun«, stammelte Hugo.
»Du wirst noch für deine Dummheit bezahlen«, verkündete der Baum. »Der Hedderwald wird dein Grab sein.«
Hugo zitterte wie Espenlaub, fasste seinen Ast fester und wartete darauf, dass sich der Baum auf ihn stürzte. Doch da tauchte Delfina neben ihm auf, dicht gefolgt von Pigasus.
»Der Baum hier will mich umbringen!« Hugo deutete mit dem Kinn auf den knorrigen Stamm. »Er hat mir prophezeit, dass ich in diesem Wald sterben muss.«
»Oje, ich glaube, du bist immer noch ein bisschen durcheinander, Hugo«, sagte Delfina besorgt. »Bäume können doch nicht sprechen.«
»Du hast ganz recht, Delfina«, pflichtete ihr Pigasus schmunzelnd bei, »Bäume können nicht sprechen – Eulen schon.«
Er hatte noch nicht ausgeredet, da kletterte eine weiß gefiederte Eule aus einem Loch im Baumstamm und glotzte auf sie herunter. Ihre gewölbte Brust war dunkelviolett getupft, die runden Augen leuchteten wie zwei blaue Planeten. Mit den sorgsam angelegten Flügeln strahlte sie gelassene Würde aus.
»Das ist eine Wächtereule«, sagte Delfina erleichtert. »Sie wollte bloß nett sein.«
»Nett?«, rief Hugo. »Sie hat mir gerade angekündigt, dass ich hier zugrunde gehen muss.«
»Sie wollte dich nur vor den Gefahren warnen, die in diesem Wald lauern. Damit du umkehrst.«
Pigasus hob den Huf und dankte der Eule für ihre Fürsorge. Er versicherte ihr, dass sie über alle Gefahren im Bilde seien, dennoch seien sie entschlossen, nach der silbernen Eichel zu suchen.
»Dann wünsch ich euch allen viel Glück«, zischelte die Eule und verschwand wieder im Baum.
»Hast du wirklich gedacht, der Baum will dir was tun?«, fragte Herkules, der aus Hugos Tasche geklettert kam. »Das hätte ich dir gleich sagen können, dass der so harmlos ist wie ein Gänseblümchen.«
»Ich fand, er sah ziemlich Furcht einflößend aus. Aber man könnte sagen, unter seiner harten Schale sitzt ein weicher Kern.«
Delfina verdrehte die Augen. »Genug der Witze über Bäume.«
»Recht hat sie!«, sagte Pigasus streng. »Ihr seht ja den Wald vor lauter Bäumen nicht!«
Aus dem Dickicht heraus beobachtete noch ein Augenpaar sehr aufmerksam, wie sie in den Wald vordrangen.
25. Kapitel
S
tunde um Stunde verging und die Welt schien stillzustehen. Weil sie die Sonne nicht sehen konnten, wusste die kleine Schar nicht, ob es Morgen, Mittag oder Abend war, und es war auch zu dunkel, um abzuschätzen, wie tief sie schon in den Wald vorgedrungen waren und wie viel noch vor ihnen lag.
Alle waren müde, aber Delfina ging es am schlechtesten. Zwar war die Luft feucht genug, dass sie atmen konnte, aber sie fühlte sich schwach und brauchte dringend ein ausgiebiges Bad in einem größeren Gewässer, um ihre Lungen aufzufüllen.
»Ich weiß ja, dass es anstrengend ist, aber immerhin sind uns noch keine Vampirkäfer begegnet«, wollte Hugo seine Gefährten aufmuntern.
»Stimmt«, erwiderte Herkules und stutzte: »Was war das?«
»Ich hör nichts«, sagte Pigasus. »Ich glaube, deine komischen Ohren spielen dir einen Streich.«
Da vernahm man ein eigenartiges Summen, das so laut anschwoll, dass Hugo sich die Ohren zuhalten musste. Etwas Schwarzglänzendes sauste an seinem Gesicht vorbei. Delfina schrie auf, als das Flugobjekt kehrtmachte und Pigasus umwarf.Danach verstummte das Summen zum Glück. Hugo nahm zögerlich die Hände von den Ohren, drehte sich um und sah das hässlichste Geschöpf, das ihm je begegnet war. Es stand nur wenige Meter von ihm entfernt und glotzte ihn an. Seine Fühler bebten, es faltete die zarten Flügel und zog sie unter den Panzer.
Hugo musterte das Ungeheuer von oben bis unten, sprachlos über solche Hässlichkeit. Das Vieh besaß sechs dürre, ebenfalls glänzend gepanzerte Beine. Der Panzer um den Leib war dreigeteilt, was den Beingelenken die nötige Bewegungsfreiheit verschaffte. Das ganze Geschöpf war ungefähr so groß wie ein hochkant gestelltes Ruderboot. Dicht über dem Nacken überlappten sich die beiden Teile des Rückenpanzers, sodass es aussah, als zöge das Insekt die Schultern
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