Perdido - Das Amulett des Kartenmachers
müssen einfach darauf vertrauen, dass er sich von uns finden lassen will.«
Je näher der Wald rückte, desto beklommener wurde die kleine Schar. Nach ein paar Stunden waren alle derart angespannt, dass sie in tiefem Schweigen einhermarschierten … bis Pigasus herumfuhr und rief: »Wer ist da?«
Es kam keine Antwort.
»Ich habe ganz bestimmt Schritte hinter mir gehört!«, sagte Pigasus.
»Du brauchst dich nicht zu fürchten«, beschwichtigte ihn Herkules. »Ich beschütze dich doch.«
»Äh … danke, Herkules. Da bin ich natürlich beruhigt.«
Während ihres Wortgeplänkels wurden sie aus dreißig Metern Entfernung von jemandem beobachtet, der hinter einem dichten Strauch mit langen, gewundenen Blättern kauerte und ihnen nachschaute, bis sie außer Sichtweite waren. Dann stand der Jemand auf und folgte ihnen.
Oben auf einer grasbewachsenen Anhöhe blieb Hugo unvermittelt stehen. Herkules, der sich nicht festgehalten hatte, flog von seiner Schulter und fuchtelte hilflos mit den Pfoten. Hugo erwischte ihn gerade noch am Schwanz.
»Das wollte ich nicht«, sagte er. »Alles in Ordnung?«
»Na klar«, erwiderte Herkules und schwang mit dem Kopf nach unten wie ein pelziges Pendel hin und her.
»Warum halten wir an?«, fragte Delfina.
»Schau mal nach unten«, entgegnete Hugo.
Hinter der Anhöhe erkannte man die vordersten Ausläufer des Hedderwaldes.
Die Bäume waren himmelhoch. Ihre knorrigen Äste waren ineinander verschlungen wie die Arme urzeitlicher Riesen und bildeten ein schier undurchdringliches Dickicht. Das dichte Blätterwerk rauschte boshaft im Wind. So dicht an dicht standendie Bäume, dass sich ihre Stämme überkreuzten und kein Lichtstrahl in den Wald hinein- oder herausdringen konnte. Unter dem leuchtend grünen Laubdach herrschte tiefste Nacht.
Die kleine Schar verharrte in ehrfürchtigem Schweigen.
Schließlich ergriff Hugo das Wort: »Ich habe noch mal über die Vampirkäfer nachgedacht. Und ich hätte da eine Frage.«
»Nämlich?«, fragte Delfina.
»Na ja, du hast doch gesagt, die Vampirkäfer kommen nur nachts raus. Wie mir scheint, herrscht im Hedderwald aber immerwährende Nacht.«
»Mach dir wegen der paar Vampirkäfer keinen Kopf«, sagte Herkules und hieb mit dem Kaktusstachel nach einem unsichtbaren Gegner.
»Ihre Panzer klappern schon, weil sie vor Angst schlottern«, setzte Pigasus hinzu.
Hugo und Delfina wechselten einen skeptischen Blick.
»Es gibt keinen anderen Weg in den Wald«, sagte Delfina. »Und laut Pedros Karte liegt die silberne Eichel irgendwo da drin.«
»Kannst du nicht einfach mit mir auf dem Rücken über den Wald drüberfliegen, Pigasus?«, schlug Hugo munter vor.
»Schön wär’s, mein lieber Junge«, lautete die seufzende Antwort. »Leider sind meine armen Flügelchen von unserem gestrigen kleinen Abenteuer noch ganz lahm. Ich kann sie kaum heben, geschweige denn damit flattern.«
»Dann müssen wir eben zu Fuß weitergehen.«
Hugo marschierte voraus und duckte sich unter den niedrigen Zweigen hindurch. Aus Sicherheitsgründen – und natürlich, um für den bevorstehenden Kampf Kräfte zu sammeln – zog Herkules es vor, sich in seiner Tasche tragen zu lassen. Unterdem Laubdach war es kalt und feucht wie in einem pechschwarzen Keller. Es war so dunkel, dass Hugo nicht einmal seine eigenen Füße sehen konnte, die schmatzend über den schlammigen Boden stapften. Er drehte sich nach den anderen um.
»Pigasus, Delfina, seid ihr noch da?«, rief er und spähte mit aufgerissenen Augen umher.
Da klopfte ihm jemand auf die Brust. Er wich einen Schritt zurück, aber es klopfte noch einmal, dann packte ihn jemand am Arm. Hugo verlor die Beherrschung.
»Hilfe, Hilfe! Ein Ungeheuer hat mich angefallen!«, brüllte er und schlug um sich. »Kommt schnell, Pigasus, Delfina! Gleich saugt es mir das Blut aus!«
Da vernahm er an seinem Ohr eine wohlbekannte Stimme. »Beruhige dich, mein Junge«, sagte Pigasus sanft. »Ich bin’s doch nur, der dich gepackt hat, und ich versichere dir, dass ich gar nichts aussaugen will – schon gar nicht dein Blut.«
Sie kamen nur langsam voran, weil sich die Äste in ihrer Kleidung beziehungsweise ihrem Fell verfingen und der zähe Morast an ihren Füßen klebte. Sie stiegen über verschlungene Wurzeln, duckten sich unter Zweigen hindurch und kämpften sich durch dichtes Laub – bis Hugo unvermittelt vor einem Baum stand, dessen Stamm so breit war wie Hugo groß und dessen dicke Rinde dicke Wülste bildete. Als Hugo
Weitere Kostenlose Bücher