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Perdido Street Station 01 - Die Falter

Perdido Street Station 01 - Die Falter

Titel: Perdido Street Station 01 - Die Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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Futter für die Männchen herumlagen. Sie erinnerte sich, wie man ihr befohlen hatte, die glänzenden Rückenschilde ihrer zahllosen Brüder zu waschen, ihren Dung vor dem Hausalter aufzuhäufen, ihnen zu gestatten, auf ihr herumzukrabbeln, ihren Körper zu erforschen, wie ihre stumpfsinnige Neugier es ihnen eingab. Sie erinnerte sich an die nächtlichen Diskussionen mit ihrer Brutschwester, flüsternd nach Khepriart mit chymischen Duftstoffen und leisem Knispeln der Mundwerkzeuge. Infolge dieser theologischen Debatten hatte ihre Brutschwester den entgegengesetzten Weg eingeschlagen und sich so tief in den Insekt-Aspekt-Glauben vergraben, dass sie ihre Mutter an religiösem Eifer übertraf.
    Lin musste fünfzehn Jahre alt werden, um sich offen gegen ihre Brutmutter aufzulehnen. Ihre Argumente, das konnte sie heute beurteilen, waren naiv gewesen und wirr. Lin nannte ihre Mutter eine Ketzerin, bezichtigte sie des Verrats an den Göttern des traditionellen Pantheons. Sie hatte sich abgewandt von dem hysterischen Selbsthass des Insekt-Aspekt-Kults und den engen Gassen von Creekside und war nach Kinken geflüchtet.
    Aus diesem Grund, überlegte sie, würde ungeachtet ihrer späteren Ernüchterung, ihrer Verachtung, ihres Hasses, ein Teil von ihr Kinken immer als einen Ort der Zuflucht betrachten. Heute bereitete ihr die Selbstzufriedenheit der insularen Gesellschaft Übelkeit, seinerzeit aber war sie regelrecht berauscht gewesen von dieser so gänzlich anderen Atmosphäre. Sie hatte sie genossen, die hochmütige Geringschätzung von Creekside, hatte mit vehementer Inbrunst zur Erhabenen Brutmutter gebetet. Sie hatte sich einen Kheprinamen gegeben und – lebenswichtig in New Crobuzon – einen menschlichen. Sie hatte festgestellt, dass in Kinken, anders als in Creekside, das Clan- und Sippensystem für ein komplexes und nützliches Geflecht sozialer Bindungen stand. Ihre Mutter hatte nie von ihrer Geburt oder ihrer Kindheit erzählt, deshalb übernahm Lin die Familienzugehörigkeit ihrer ersten Freundin in Kinken und antwortete jedem, der fragte, sie wäre Redwing Hive, Catskull Moiety.
    Ihre Freundin hatte sie mit Lustsex bekannt gemacht, ihr beigebracht, den sinnlichen Körper unterhalb des Halses zu genießen. Das war die schwierigste, die tiefgreifendste Wandlung. Ihr Menschenkörper war für sie ein Makel gewesen, dessen man sich schämte; sich auf Aktivitäten einzulassen, die keinem anderen Zweck dienten als der reinen Wonne am sinnlichen Empfinden, hatte sie erst angewidert, dann erschreckt und endlich befreit. Bis dahin hatte sie sich lediglich, auf Geheiß ihrer Mutter, dem Kopfsex unterzogen und widerwillig stillgehalten, wenn ein Männchen sie bekrabbelte und erregt mit ihrem Kopfkäfer kopulierte, in dem gnädigerweise erfolglosen Bemühen, sie zu befruchten.
    Im Lauf der Zeit milderte sich Lins Hass auf ihre Brutmutter, wurde erst Verachtung, schließlich Mitleid. In ihren Abscheu vor Creeksides Armseligkeit mischte sich ein gewisses Verständnis. Dann war ihre fünf Jahre dauernde Liebesaffäre mit Kinken vorbei. Der Anfang vom Ende zeichnete sich ab, als sie auf dem Platz der Skulpturen stand und merkte, dass sie kitschig waren und dilettantisch, Sinnbilder einer Kultur ohne Kraft zur Selbsterkenntnis. Ihr Blick schärfte sich für die Mitschuld Kinkens an der Unterdrückung von Creekside und der eigenen Armen, über die man nicht sprach; sie sah eine Gemeinschaft, bestenfalls kaltherzig und gleichgültig, schlimmstenfalls tatkräftig bestrebt, Creekside niederzuhalten, um die eigene Überlegenheit zu bewahren.
    Kinken mit seinen Priesterinnen und seinen Orgien und seiner Heimarbeitsindustrie wähnte sich autark und verdrängte die Abhängigkeit von der vielfältigeren Ökonomie New Crobuzons – das man trotz seiner megalopolischen Größe als eine Art Anhängsel Kinkens abtat. Doch Lin erkannte, dass sie in einer unhaltbaren Enklave lebte. In Kinken vermengten sich Heuchelei, Dekadenz, Unsicherheit und Snobismus zu einem unbekömmlichen moralischen Gebräu. Es war ein Parasit.
    Lin musste zornig und empört begreifen, dass Kinken verlogener war als Creekside. Diese Erkenntnis bewirkte jedoch keine nostalgische Verklärung ihrer trostlosen Kindheit. Sie empfand nicht den Wunsch, nach Creekside zurückzukehren. Und wenn sie jetzt Kinken den Rücken kehren wollte wie zuvor Insekt-Aspekt, gab es keinen anderen Weg als den hinaus.
    Also brachte Lin sich selbst die Gebärdensprache bei und ging.
     
    Nicht

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