Perdido Street Station 01 - Die Falter
Sheck war kein Elendsviertel. Die Häuser waren solide und die meisten hielten den Regen ab. Verglichen mit dem regellos wuchernden Dog Fenn, den verrotteten Backsteingemäuern von Badside und Chimer’s End und erst recht den trostlosen Baracken von Spatters repräsentierte Sheck mittelständischen Komfort. Etwas überfüllt, und natürlich gab es Trunksucht und Armut und Kriminalität, doch alles in allem konnte man es schlechter treffen. Hier wohnten die Einzelhändler, die kleineren Geschäftsführer und besser bezahlten Fabrikarbeiter, die täglich nach Echomire und Kelltree strömten, nach Gross Coil und Didacai Village, besser bekannt als Smog Bend.
Lin erntete dort schräge Blicke. Sheck grenzte an Kinken, nur ein paar schüttere Parks trennten die beiden Ortsteile. Das Nachbarviertel war für Sheck eine ständige Mahnung, dass der Weg nach unten kürzer war als man dachte. Tagsüber sah man viele Khepri in Sheck, unterwegs zum Einkaufen nach The Crow oder um an der Perdido Street Station den Zug zu nehmen. Nachts aber wagte sich nur eine verwegene Khepri auf die Straßen, in denen militante Drei Federn patrouillierten, die darauf aus waren, »ihre Stadt sauber zu halten«. Lin achtete darauf, diesen Bereich vor Dunkelwerden hinter sich gelassen zu haben. Unmittelbar dahinter lag Kinken, wo sie in Sicherheit war.
In Sicherheit, aber nicht glücklich.
Mit einem Kribbeln im Magen, das Übelkeit sein konnte oder Aufregung, wanderte sie durch ihr altes Viertel. Viele Jahre lang waren ihre Besuche hier kurze Stippvisiten gewesen, um Färberbeeren und Paste zu kaufen, vielleicht ab und zu eine typische Khepri-Delikatesse. Neuerdings aber waren ihre Besuche Auslöser für Erinnerungen, die sie verdrängt geglaubt hatte.
Die Häuser waren mit dem weißen Muzin der Mörtelkäfer beträuft. Manche hüllten sich darin ein wie in einen dicken Mantel und teilten ihn mit ihren Nachbarn links und rechts: Der weiße Überzug breitete sich über Dächer, verschmolz eine ganze Häuserzeile zu einer einheitlichen, höckerigen, koagulierten Masse.
Manchmal konnte Lin durch Fenster und Türen in die Räume schauen. Die von menschlichen Erbauern stammenden Wände und Fußböden hatten Löcher, wo man den Käferlarven erlaubt hatte, sich blind durch das Innere des Gebäudes zu fressen, wobei sie mit dem von der Körperunterseite abgesonderten Schleim neue Wege schufen.
Ab und zu sah Lin ein lebendes Exemplar – von einer der Farmen am Fluss geholt – damit beschäftigt, ein Haus umzugestalten, kheprigerecht mit gewundenen Gängen und Wohnhöhlen.
Die stumpfsinnigen Larven, größer als Rhinozerosse, walzten stummelbeinig, den Signalen ihrer Wärter gehorchend, durch die Gebäude und versahen die Räume mit einem schnell trocknenden Verputz, der Ecken rundete und Räume und Häuser und Straßen mit einem Netz von Tunnels verband, die aussahen wie riesige Wurmgänge.
Manchmal saß Lin in einer von Kinkens kleinen Grünanlagen. Sie saß still auf einer Bank zwischen den zaghaft erblühenden Bäumen und beobachtete das Treiben von ihresgleichen. Ihr Blick wanderte zu den Rückseiten und Flanken hoher Mietshäuser. Einmal sah sie ein junges Menschenmädchen aus einem Fenster hoch oben lehnen, das aussah, wie nachträglich aus einer Laune heraus eingefügt. Das Mädchen schaute seelenruhig, was die Nachbarn taten – alles Khepri –, während an einer Stange neben ihr die Wäsche der Familie im böigen Wind flatterte.
Was für eine seltsame Kindheit, dachte Lin und stellte sich das Mädchen vor, umgeben von stummen, insektenköpfigen Kreaturen, ebenso befremdlich, als wenn Lin unter Vodyanoi aufgewachsen wäre – aber diese Überlegung wies bedrohlich zurück in ihre eigene Kindheit.
Natürlich waren die Ausflüge in diese verhassten Straßen eine Wanderung durch die Stadt ihrer Erinnerung. Lin war sich dessen bewusst. Sie fasste sich ein Herz für den Blick zurück.
Kinken war ihre erste Zuflucht gewesen. In ihrer augenblicklichen, merkwürdigen Phase der Isolation, wo sie mit dem Tun von Khepri-Verbrecherköniginnen sympathisierte und in allen Quadranten der Stadt eine Ausgestoßene war – außer vielleicht in Salacus Fields, wo Ausgestoßene regierten – reifte in ihr die Erkenntnis, dass ihre Gefühle, was Kinken anging, ambivalenter waren, als sie sich bisher eingestanden hatte.
Seit fast 700 Jahren gab es Khepri in New Crobuzon, seit die Fervent Mantis das Vielwassermeer überquert hatte und Bered Kai Nev
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