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Perdido Street Station 01 - Die Falter

Perdido Street Station 01 - Die Falter

Titel: Perdido Street Station 01 - Die Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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eine Sekunde machte Lin sich vor, sie könnte für die Welt je etwas anderes sein als Khepri. Das war auch nicht ihr Ziel. Doch für sich selbst versuchte sie nicht länger, typisch Khepri zu sein, so, wie sie vorher aufgehört hatte, Insekt-Aspekt-Gläubige zu sein. Deshalb wunderte sie sich über ihre spontane Solidarisierung mit Ma Francine. Es lag nicht allein daran, dass Ma Francine Vielgestalt Widerpart bot. Dass eine Khepri es war, die diesem kaltblütigen Verbrecher Territorium streitig machte, das ging Lin unter die Haut.
    Sie war sich selbst ein Rätsel. Oft saß sie lange im Schatten der Banyans oder Eichen oder Birnenbäume in dem Kinken, für das sie jahrelang nichts als Verachtung übrig gehabt hatte, umgeben von Schwestern, für die sie eine Außenseiterin war. Sie wollte ebenso wenig wieder nach Khepriart leben wie zum Glauben an Insekt-Aspekt zurückkehren. Sie verstand die Kraft nicht, die sie aus Kinken bezog.

 
KAPITEL 19
     
     
    Das Konstrukt, das seit Jahr und Tag für David und Lublamai raumpflegerische Tätigkeiten ausführte, schien endgültig den Geist aufzugeben. Bei der Arbeit stieß es merkwürdige Geräusche aus und drehte sich im Kreis; es entwickelte Vorlieben für beliebige Stellen des Fußbodens, die es polierte, bis man sich darin spiegeln konnte. An manchen Tagen brauchte es fast eine Stunde, um aufzuwärmen. Es verhedderte sich in Programmschleifen, die es zwangen, kleine Abläufe endlos zu wiederholen.
    Isaac erzog sich dazu, das ständige, neurotische Winseln zu überhören. Er arbeitete mit beiden Händen gleichzeitig. Links brachte er seine Erkenntnisse in Form von Diagrammen zu Papier, rechts hämmerte er mittels der widerspenstigen Tasten Gleichungen in die Eingeweide seiner Rechenmaschine, fütterte sie mit Lochkarten, so schnell sie nur schlucken konnte. Er löste dieselben Aufgaben mit verschiedenen Programmen, verglich die Ergebnisse auf sich ringelnden meterlangen Papierschlangen.
    Die unzähligen Bücher zum Thema Aviation in Isaacs Regalen waren verschwunden und mit Teafortwos Hilfe ersetzt worden durch eine ebenso große Anzahl von Bänden über die Vereinheitlichte Feldtheorie sowie das arkane Untergebiet der Krisismathematik.
    Nach nur zwei Wochen Arbeit geschah etwas Außerordentliches in Isaacs Kopf. Die Rekonzeptionalisierung erfolgte so undramatisch, dass er anfangs das Ausmaß seiner Erkenntnis gar nicht begriff. Es schien ein Gedankengang von vielen im Geflecht eines langen inneren wissenschaftlichen Dialogs zu sein. Die Erleuchtung überfiel Isaac Dan dar Grimnebulin nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Stattdessen, während er eines Tages an seinem Bleistift kaute, dämmerte aus dem Wust der Gedanken die vage Vorstellung herauf: Moment mal, vielleicht könnte man es so versuchen …
    Isaac brauchte anderthalb Stunden, um dahinterzukommen, dass das, was er nur für einen brauchbaren Ansatz gehalten hatte, ungeahnte Möglichkeiten in sich barg. Er unternahm systematische Anstrengungen zu beweisen, dass er sich irrte. Verbissen konstruierte er ein mathematisches Szenario nach dem anderen, um seine provisorisch hingekritzelten Gleichungen zu widerlegen. Es gelang ihm nicht. Sie hielten stand.
    Alles in allem dauerte es zwei Tage, bis er zu glauben wagte, dass er ein fundamentales Problem der Krisistheorie gelöst hatte. Er erlebte Augenblicke der Euphorie, doch vorherrschend war ein nervöser Pessimismus. Er nahm sich Zeit, die Fachliteratur akribisch zu durchforsten, um sicher zu gehen, dass er nicht irgendeinen offensichtlichen Fehler übersehen, eine längst widerlegte These repliziert hatte.
    Immer noch hielten die Gleichungen stand.
    In seiner Angst, von Hybris geblendet zu sein, stürzte Isaac sich auf jede halbwegs wahrscheinliche Alternative, statt die Wahrheit zu akzeptieren: dass ihm die mathematische Quantifizierung von Krisisenergie gelungen war!
    Eigentlich war es Usus, in diesem Stadium Kontakt zu Kollegen aufzunehmen, seine Erkenntnisse als Fortschrittsbericht im Blatt Philosophische Physik oder Syntagma veröffentlichen, doch war er so erschlagen von seiner Entdeckung, dass er jetzt nicht an die Öffentlichkeit treten wollte. Erst musste jeder Zweifel aus dem Weg geräumt sein. Noch ein paar Tage, ein paar Wochen, vielleicht einen Monat oder zwei, und dann publizieren. Zu seiner eigenen Verwunderung verspürte er nicht einmal das Bedürfnis, sich David oder Lublamai anzuvertrauen, oder Lin. Isaac war von Natur aus redselig und neigte

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